Wann gab es die Pille in der DDR?

1965 stellte der VEB Jenapharm das neue Verhütungsmittel ‚Ovosiston‘ auf der Leipziger Messe vor. In Abgrenzung von der westlichen ‚Antibaby-Pille‘ wurde das Präparat als ‚Wunschkindpille‘ propagiert, das den Frauen die Chance eröffnen sollte, Berufstätigkeit und Mutterschaft miteinander zu vereinbaren.

Dr. Gunther Göretzlehner, ein junger ehrgeiziger Assistenzarzt an der Frauenklinik der Universität Rostock, war fasziniert von der Idee der hormonellen Steuerung des weiblichen Zyklus. In der Schublade im Schrank seines Sprechzimmers befanden sich viele kleine Pappschachteln mit der Aufschrift ‚Ovosiston‘. Seit Oktober 1964 testete er im Auftrag des volkseigenen Betriebs Jenapharm das neue Präparat. Frauen dafür zu gewinnen, die Pille zu nehmen und über ihre Erfahrungen zu berichten, sei überhaupt kein Problem gewesen, erzählte er. Die Frauen seien natürlich froh gewesen. Manche seiner Patientinnen habe er nicht einmal ansprechen müssen. Es habe sich herumgesprochen, dass die Pille bei ihm zu haben sei. Er nannte das einen „Lauffeuereffekt“. In seiner Schublade habe er „alle Sorten Pillen“1 gehabt, aus der Bundesrepublik, aus der Schweiz und aus Holland.

Sein Engagement für die Einführung der Pille begründete er mit den vielen Nächten, die er als junger Mediziner am Intubationsgerät verbracht habe, um das Leben von Patientinnen zu retten, die nach einem missglückten illegalen Schwangerschaftsabbruch in die Klinik gebracht worden seien und für die allzu oft jede Hilfe zu spät kam. Demgegenüber sei die hormonelle Verhütung ein echter Fortschritt gewesen.

Goldmedaille auf der Leipziger Messe

Im Frühjahr 1965 präsentierte der volkseigene Betrieb Jenapharm auf der Leipziger Messe zum ersten Mal sein neues Präparat Ovosiston und wurde dafür mit einer Goldmedaille ausgezeichnet. Die Bezeichnung ‚Wunschkindpille‘ war zu diesem Zeitpunkt noch unbekannt. Der Rostocker Professor für Sozialhygiene, Karl-Heinz Mehlan, sollte diesen Begriff erst vier Jahre später prägen, als er in seinem populären Buch Wunschkinder den Gebrauch des hormonellen Verhütungsmittels als die sicherste und beste Methode der Familienplanung pries. In bewusster Abgrenzung von der sogenannten Anti-Baby-Pille des Westens hatte er eine positive Bezeichnung gewählt, einen Begriff, in dem gleichsam die Essenz der DDR-Familienpolitik jener Jahre enthalten war: Förderung von Geburten bei gleichzeitiger Integration von mehr Frauen in den Arbeitsprozess. Die ‚Wunschkindpille‘ sollte helfen, einen solchen Spagat zu vollbringen. Sie sollte die Frauen befähigen (es war damals nur die Rede von Frauen), familiäre und berufliche Pflichten miteinander zu vereinbaren. Das Wortkonstrukt Wunschkindpille setzte sich allerdings weder im Alltagsgebrauch noch unter Fachleuten jemals durch. Auch in der DDR war hauptsächlich von der ‚Pille‘ die Rede.

Die ideale DDR-Familie, „Deine Gesundheit“ (DG) Nr. 6/1972

Neues Zeitalter der Empfängnisverhütung

Mit der Entdeckung und massenhaften Verbreitung eines Mittels, das in der Lage war, Sexualität und Fortpflanzung voneinander abzukoppeln, begann weltweit ein neues Kapitel in der Geschichte der Empfängnisverhütung. Zweifellos spielten die kleinen Dragees sowohl bei der sexuellen Revolution als auch bei der unaufhaltsamen Veränderung der Machtverhältnisse zwischen den Geschlechtern ihre Rolle. Das alles fiel in eine Zeit, in der Fortschrittsglaube und die Vorstellung grenzenloser Machbarkeit in den Industriegesellschaften sowohl im Osten als auch im Westen Konjunktur hatten.

Nur fünf Jahre nach der Erstzulassung der Pille in den USA (1960) und vier Jahre nach der in der Bundesrepublik (1961) schloss Ostdeutschland an die internationale Entwicklung an. Anders als im Westen, wo der Staat sich lediglich für die Zulassung des neuen Präparats auf dem Markt zuständig fühlte, war die Wunschkindpille in der DDR nicht nur eine Angelegenheit privater Entscheidung, sondern sie war Teil der staatssozialistischen Politik im Rahmen eines ehrgeizigen Modernisierungsprogramms nach dem Mauerbau 1961.

Akteure und Akteurinnen aus verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen hatten, angetrieben von durchaus unterschiedlichen Motiven, dieser Neuerung zum Durchbruch verholfen: Während die Entscheidungsträger im Politbüro und im Wirtschaftsministerium möglichst viele Frauen in den Arbeitsprozess bringen wollten, bei gleichzeitiger Beibehaltung einer hohen Geburtenrate, erhofften sich die Verantwortlichen im VEB Jenapharm neben der Erfüllung der staatlichen Planaufgaben auch devisenträchtige Exporterfolge. Die Mediziner*innen sahen darin vor allem ein Mittel zur Eindämmung der illegalen Abtreibungen. Für die Frauenrechtlerinnen in der Frauenkommission des SED-Politbüros bot die Pille eine Möglichkeit zur Durchsetzung der Ideen von weiblicher Selbstverwirklichung und Gleichberechtigung, wie sie in dem neuen Familiengesetzbuch von 1965 niedergelegt waren. Die Sexualforscher*innen und Sexualberater*innen schließlich starteten eine Aufklärungskampagne, nicht nur, um das neue Verhütungsmittel bekanntzumachen, sondern auch, um das Thema Sexualität aus der Tabu-Zone zu holen und um sexuelle Lust und Erfüllung (gestützt auf Marx- und Engels-Zitate) zu einem wichtigen Bestandteil des ‚Glücks im Sozialismus‘ zu erklären.

Die Reaktion der Frauen

Von den Subjekten des Geschehens – den Frauen, die diese Pille schlucken wollten oder sollten – war bisher noch keine Rede. Die Historikerin Eva-Maria Silies beschreibt in einer erfahrungsgeschichtlichen Untersuchung eindrücklich, wie in der Bundesrepublik die Auseinandersetzungen um den Zugang zur Pille, um Sexualmoral und um Geschlechterrollen in den Medien und auf der Straße ausgetragen wurden.2 In der DDR dagegen bekamen die Frauen das Verhütungsmittel auf dem Tablett serviert, versehen mit einer deutlichen Gebrauchsanleitung, einer bevölkerungspolitischen Botschaft. Sie reagierten auf das Angebot manchmal zögerlich, häufiger erfreut, wenngleich viele von ihnen ihre Skepsis gegenüber möglichen Nebenwirkungen des Präparats nicht aufgaben. Eine Forschungsgruppe an der Universität Jena, der auch die Autorin dieses Beitrags angehörte, befragte vor einigen Jahren Vertreterinnen dreier Altersgruppen3 in lebensgeschichtlichen Interviews nach ihrem Umgang mit dem hormonellen Verhütungsmittel.4

Die Frauen aus der Gruppe der sogenannten Kriegskinder waren zum Zeitpunkt der Einführung der Pille zwischen 30 und 35 Jahre alt, sie waren meist verheiratet und hatten schon zwei oder drei Kinder geboren. Als junge Mädchen waren sie selten sexuell aufgeklärt worden. Um voreheliche Schwangerschaften zu verhindern, waren sie strengen Verhaltensregeln unterworfen. Sexualität war ein Tabu-Thema, der Gang zum Gynäkologen schambesetzt. Diese Frauen entschieden sich – wenn überhaupt – erst nach der Geburt eines ungewollten weiteren Kindes für eine hormonelle Verhütung. So erlebte es Johanna Gries5 , Jahrgang 1935. Die ausgebildete Krankenschwester hatte sich zur Leiterin einer Kinderkrippe qualifiziert, diese Karriere wollte sie keinesfalls aufgeben. Nach der Geburt des dritten Kindes nahm sie die Pille ohne Beschwerden bis zur Menopause: „Ich hab die geschluckt wie jedes Bonbon, was man nimmt.“6 Der fünf Jahre jüngeren Wäschereiarbeiterin Paula Ernst hingegen ging es nach der Geburt ihres dritten Kindes schlicht um die Sicherung der familiären Existenz. Im Gegensatz zu Johanna Gries vertrug sie die Pille schlecht, litt unter Kopfschmerzen und Blutungen, wagte jedoch nicht, das Präparat wieder abzusetzen. Auf keinen Fall wollte sie noch ein Kind: „Hab ich gedacht: Durchziehn! Durchziehn und – das war’s.“7

Alles nach Plan?

Den befragten Frauen aus der Gruppe der ‚Kinder des Aufbaus‘ stand das neue Verhütungsmittel faktisch seit Beginn ihrer sexuellen Aktivität zur Verfügung. Sie waren besser aufgeklärt und genossen mehr Freiheiten als die ‚Kriegskinder‘. Die studierte und promovierte Juristin Erica Pincus (Jahrgang 1950) begann mit 18 Jahren, die Pille zu nehmen. Studium und Beruf, Eheschließung und Geburten der beiden Kinder – alles sei bei ihr „schön geplant und der Reihe nach“8 verlaufen. Insofern erfüllte sie exemplarisch das staatliche ‚Wunschkindpillen‘-Konzept. Andere Frauen ihrer Altersgruppe jedoch bezeugten weiterhin Skepsis und Zurückhaltung gegenüber dem Eingriff in ihr Hormonsystem. Die 1947 geborene Marianne Busch, von Beruf Sekretärin, holte sich das Pillenrezept ganz bewusst erst nach der Geburt ihrer beiden gewünschten Kinder. Zuvor hatte sie schädliche Auswirkungen der „Chemikalien“ auf das ungeborene Leben befürchtet: „[...] Na egal, was die machen, wirklich gesund kann’s ja wohl nicht sein.“9

Bei der Altersgruppe der ‚Babyboomerinnen‘ schließlich war die Pille im Alltag angekommen. Die jungen Frauen wurden häufig schon im Alter von 16 Jahren von ihren Müttern zum Gynäkologen geschickt. Filmdramaturgin Nina Ahrend, Jahrgang 1961: „Die Pille war bekannt als das Ding, das man eben nimmt, wenn es so weit ist. Kondom kannte ich überhaupt nicht, vielleicht vom Hörensagen. Das fanden wir extrem altmodisch.“10   Charakteristisch für diese Gruppe ist die Selbstverständlichkeit, mit der die jungen Mädchen und Frauen die Freiheiten, die die Pille bot, nutzten, um sich – anders als ihre Mütter und Großmütter – in wechselnden Partnerschaften auszuprobieren. Auffallend sind aber auch Anzeichen einer gewissen Pillenmüdigkeit etwa im Alter von 35 bis 40 Jahren und die Suche nach alternativen Verhütungsmethoden, um wieder den natürlichen Hormonzyklus zu spüren.

Die ‚Babyboomerinnen‘ erlebten 1990, quasi zu Beginn ihrer beruflichen Laufbahn und zu einem Zeitpunkt, als die Familienplanung häufig noch nicht abgeschlossen war, einen tiefen Einschnitt in ihrem Leben. Nach der deutschen Vereinigung verschwanden die Bedingungen (Sicherheit des Arbeitsplatzes kombiniert mit staatlichen Fördermaßnahmen), unter denen Berufstätigkeit und die Geburt von Kindern – auch für Alleinerziehende – miteinander vereinbar waren. Dass viele der Frauen weiterhin an diesem Lebensmuster festhielten, dass sie enorme Energien entwickelten, um sich nicht aus dem Berufsleben verdrängen zu lassen, ist vermutlich eine der besten Hinterlassenschaften der DDR. Alles „in den Griff“ zu bekommen, so die Gärtnerin und Floristin Rita Heinke (Jahrgang 1964), sei den ostdeutschen Frauen „quasi in die Wiege gelegt“11 worden.

Stand: 13. September 2018

Dr. Annette Leo

Historikerin und Publizistin, Berlin. Schwerpunkte: Erinnerungskultur, Oral History, biografische Forschungen.

Empfohlene Zitierweise

Dr. Annette Leo (2018): Die ‚Wunschkindpille‘, in: Digitales Deutsches Frauenarchiv

URL: https://www.digitales-deutsches-frauenarchiv.de/themen/die-wunschkindpille

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Ausgewählte Publikationen

Silies, Eva-Maria: Liebe, Last und Lust. Die Pille als weibliche Generationserfahrung in der Bundesrepublik 1960–1980, Göttingen 2010.

Leo, Annette / König, Christian: Die „Wunschkindpille“. Weibliche Erfahrung und staatliche Geburtenpolitik in der DDR, Göttingen 2015.

Wann kam die Antibabypille in der DDR?

Die Einführung der Pille aus dem Hause Schering ab 1. Juni 1961 in der BRD und der DDR 1965 findet regelrecht unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. In der Bundesrepublik berichtet "Der Spiegel" 1961 lediglich über die Einführung der Pille in Ländern wie den USA oder Australien.

Wie hat man in den 20er Jahren verhütet?

Der Entdecker des G-Punktes, Ernst Gräfenberg, hat im Jahre 1920 die erste Spirale – damals noch in Ringform – zur Verhütung intrauterin (in der Gebärmutter) eingesetzt. Dabei handelte es sich um einen mit Silberdraht umwickelten Ring, welcher bis in die 1960er Jahre verwendet wurde.

Wie hat man in den 40ern verhütet?

Jahrhundert nach Christus praktizierte. Er riet dazu, aus einer frischen Alraunwurzel, Kohlblättern, Kohlsamen, Zedernöl und Skammoniablättern ein Kügelchen zu formen. Das wurde dann in die Scheide der Frau eingeführt, während der Mann seinen Penis mit Bleiweiß und Zedernöl einrieb.

Wie hat man vor 100 Jahren verhütet?

So wurden zum Beispiel bis vor 100 Jahren Kondome aus dem Blinddarm von Schafen ... ... oder Fischblasen hergestellt. Ein Schleife sorgte dafür, dass das Präservativ nicht abrutschte.