Es darf nicht sein was nicht sein soll

CHRISTIAN MORGENSTERN

Die unmögliche Tatsache

Palmström, etwas schon an Jahren,
wird an einer Straßenbeuge
und von einem Kraftfahrzeuge
überfahren.

„Wie war“ (spricht er, sich erhebend
und entschlossen weiterlebend)
„möglich, wie dies Unglück, ja –:
dass es überhaupt geschah?

Ist die Staatskunst anzuklagen
in bezug auf Kraftfahrwagen?
Gab die Polizeivorschrift
hier dem Fahrer freie Trift?

Oder war vielmehr verboten,
hier Lebendige zu Toten
umzuwandeln, – kurz und schlicht:
Durfte hier der Kutscher nicht –?“

Eingehüllt in feuchte Tücher,
prüft er die Gesetzesbücher
und ist alsobald im Klaren:
Wagen durften dort nicht fahren!

Und er kommt zu dem Ergebnis:
Nur ein Traum war das Erlebnis.
Weil, so schließt er messerscharf,
nicht sein kann, was nicht sein darf.

1910

Konnotation

Seinen enormen Nachruhm verdankt das 1909 entstandene Gedicht von Christian Morgenstern (1871–1914) den beiden Schlussversen, die zu einem Evergreen der geflügelten Worte geworden sind. In seinen Galgenliedern, in deren zweiter Auflage von 1910 das Gedicht zu finden ist, hatte Morgenstern behauptet, man sehe die Welt vom Galgen aus anders an, und „man sieht andre Dinge als Andre“. So hält auch sein Held Palmström an einer eigenen Deutung der Wirklichkeit fest.
Zur Entstehungszeit des Gedichts war der technische Standard des Autofahrens noch denkbar gering. Und doch berührt uns das groteske Gedicht noch immer – und mit ihm der seltsame Konflikt Palmströms zwischen von ihm verfochtenen Logik und der eigensinnig widerstrebenden Wirklichkeit. Seit der Erstveröffentlichung des Gedichts hat es zahlreiche Fälle in der Geschichte gegeben, in denen empirische Wirklichkeit und die Logik des Seinsollenden aufeinander geprallt sind.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2007, Verlag Das Wunderhorn, 2006

Aufnahme 2007

Palmström, etwas schon an Jahren,
wird an einer Straßenbeuge
und von einem Kraftfahrzeuge
überfahren.

„Wie war“ (spricht er, sich erhebend
und entschlossen weiterlebend)
„möglich, wie dies Unglück, ja –:
daß es überhaupt geschah?

Ist die Staatskunst anzuklagen
in bezug auf Kraftfahrwagen?
Gab die Polizeivorschrift
hier dem Fahrer freie Trift?

Oder war vielmehr verboten,
hier Lebendige zu Toten
umzuwandeln, – kurz und schlicht:
D u r f t e hier der Kutscher nicht–?“

Eingehüllt in feuchte Tücher,
prüft er die Gesetzesbücher
und ist alsobald im klaren:
Wagen durften dort nicht fahren!

Und er kommt zu dem Ergebnis:
„Nur ein Traum war das Erlebnis.
Weil“, so schließt er messerscharf,
„nicht sein kann, was nicht sein darf.“

"Sollte die Kultusministerkonferenz dem Vorschlag der Kulturstaatssekretäre vom 3. 11. 2008 folgen und die Bildungsstandards für die Hauptschulen zuerst aussetzen und dann senken, handelt sie nach dem Motto der Hauptfigur in Morgensterns Gedicht, das auch noch den passenden Titel `Die unmögliche Tatsache` trägt."

04.12.2008 Nordrhein-Westfalen Pressemeldung Verband Bildung und Erziehung, Landesverband NRW

"Und er kommt zu dem Ergebnis:
nur ein Traum war das Erlebnis.
Weil, so schließt er messerscharf,
nicht sein kann, was nicht sein darf."
Christian Morgenstern

So deutet der VBE-Landesvorsitzende die Pläne in dem kursierenden Papier der Kultusstaatssekretäre, das dem VBE vorliegt. "Darin wird sehr genau die Problematik des Schulsystems beschrieben, die sich in den Hauptschulen konzentriert. Diese Problematik kann aber offenbar aus der Sicht vieler Kultusminister nicht vorhanden sein, weil sie nicht vorhanden sein darf."

Morgensterns Figur Palmström macht aber nur sich selbst etwas vor und schadet anderen damit nicht. Bildungspolitiker, die eine besondere Kommunikationsstrategie entwerfen lassen, um Probleme des Schulsystems zu verschleiern, haben zumindest die Bereitschaft, anderen etwas vorzumachen. In besagtem Papier ist explizit nachzulesen, dass sich nach dem Übertritt von der Grundschule in die weiterführenden Schulen die Probleme verstärken und "eine deutliche Zunahme der Leistungsunterschiede, das Anwachsen der sog. Risikogruppe [und] ein noch stärkerer Einfluss der sozialen und ethnischen Herkunft auf den Kompetenzerwerb" festzustellen ist.

"Das ist das Eingeständnis, dass die frühe Trennung der Kinder zu erheblichen Problemen führt", so Beckmann. "Schade ist nur, dass daraus nicht der nahe liegende Schluss gezogen wird, dieses typisch deutsche Phänomen abzuschaffen."

Der VBE fordert die Kultusministerkonferenz und insbesondere die nordrhein-westfälische Schulministerin auf, aus dieser Erkenntnis Konsequenzen zu ziehen und sich endlich für das längere gemeinsame Lernen zu öffnen. Darüber hinaus ist die nordrhein-westfälische Schulministerin aufgefordert, sich einer Absenkung der Bildungsstandards für die Hauptschulen zu verweigern.

In dem Papier findet sich die Formulierung, es müsse verhindert werden, "dass die Verteilung der Schülerinnen und Schüler auf bestimmte Schulen zur Bildung von anregungsarmen Lernumgebungen mit massiven sozialen Problemen führt." Das sieht der VBE genauso und sagt es im Unterschied zu vielen Bildungspolitikern auch schon lange laut.

"Wir erwarten, dass die Politik mit konkreten Vorschlägen aufwartet, wie das verhindert werden soll", so Beckmann. "In Kombination mit den erkannten Problemen beim Übergang in die Sekundarstufe I muss das die Öffnung für andere Strukturen bedeuten."

Der VBE fordert zudem die nordrhein-westfälische Schulministerin auf, sich für das Beibehalten des nationalen Vergleichs PISA-E einzusetzen.

"Wenn diese Studie durch eine bundesweite Vergleichsstudie ersetzt wird, werden wir in Zukunft die Leistungen der Schüler in den einzelnen Bundesländern nicht mehr mit dem OECD-Durchschnitt vergleichen können", so Beckmann. "Es ist aber der Sinn der PISA-Studien, den teilnehmenden Ländern Rückmeldungen über die Leistungen ihrer Bildungssysteme im internationalen Vergleich zu geben. Da in Deutschland Schule Ländersache ist, wäre ein Rückzug aus PISA-E eine Entscheidung gegen internationale Orientierung und für deutsche Kleinstaaterei."

Ansprechpartner

Verband Bildung und Erziehung, Landesverband NRW


Mehr zum Thema

  • Ergebnisse der 324. Plenarsitzung der Kultusministerkonferenz am 4. Dezember 2008 in Bonn

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