Wie ist das Leben im Hospiz?

Die Arbeit im Hospiz lässt einen die Welt mit anderen Augen sehen. Leben, Hoffnung, Glaube, Zeit, Liebe und Tod: Erfahrungen aus der ehrenamtlichen Arbeit im Hospiz.

Leben

Nirgendwo ist das Leben so präsent, so allgegenwärtig wie in diesem kleinen Haus in Berlin-Pankow. Es ist das Hospiz, in das ich jede Woche gehe - und in das ich Sie diese Woche mitnehmen möchte. Das Haus ist um einen kleinen Innenhof gebaut, von dem aus immer Licht in die Gänge fällt. Hell und freundlich sieht es hier aus, so gar nicht nach Tod und Sterben. Es ist das Leben, das hier im Mittelpunkt steht - das Leben bis zuletzt.

Die Patienten im Hospiz nennt man Gäste. Das klingt freundlicher und stimmt ja auch. Sie sind keine Patienten mehr. Den Menschen, die hier leben, kann kein Arzt mehr helfen. Sie leben - vor dem Sterben. "Sie wissen ja,ich sterbe", hat mich bei meinem ersten Besuch ein Gast empfangen. Mehr als ein "Ja" ist mir als Antwort nicht eingefallen. Was sagt man? Wie handelt man? Wie geht man mit Menschen um, die sterben?

Mittlerweile weiß ich, dass nichts an diesem Ort unsinniger ist als aufmunternde Worte oder gewollter Optimismus. Damit helfe ich nur mir selbst, nicht den Gästen. Im Hospiz geht es darum zu sterben. Jeder weiß das. Und die meisten haben einen Weg gefunden, damit umzugehen.

Herr H. wartet schon lange auf den Tod. Und er wünscht sich, dass er schnell kommt. Herr H. spricht nicht über Gefühle. Sein Leben bestand vor allem aus Disziplin. Er war Mitglied der SED, Lehrer an der Parteihochschule, Doktorarbeit über Marx und Engels. Er begrüßt mich immer mit dem Satz "Ich habe Ihnen heute gar nichts zu sagen". Und dann fängt er an zu erzählen. Von seinem Leben, von seiner Familie, von seinem Enkel, der sich vielleicht in die falsche Frau verliebt hat.

Herr H. hat Lungenkrebs. Am Anfang hatte er Angst, dass er irgendwann einfach erstickt. Doch seine Ärzte haben ihm gesagt, dass der Tod langsam komme. Dass der Körper immer schwächer werde und er einfach aufhöre zu atmen. Das hat ihn beruhigt. Jetzt macht er sich vor allem Gedanken um seine Familie, seine Frau. Auch sie ist krank, braucht Hilfe. Auf seinem Nachttisch steht ein Foto von ihm mit seiner Frau. Beide lachen. Herr H. muss dann manchmal weinen. Meistens sagt er dann: "Mehr habe ich Ihnen heute nicht zu sagen."

Hoffnung

Herr F. war immer wieder im Krankenhaus, und immer wieder wurde er entlassen mit der Hoffnung, dass doch noch alles gut werde. Die Ärzte sagten, der Krebs sei jetzt vielleicht besiegt. Jedes Mal ist er nach Hause zu seiner Frau gegangen, und die beiden haben sich auf ein paar weitere Jahre gefreut. Jedes Mal hielt die Hoffnung nur wenige Monate. Mit dem Hospiz ist diese Hoffnung gestorben. Hoffnung ist ein schwieriges Wort an diesem Ort. Hier gilt der Satz "Die Hoffnung stirbt zuletzt" nicht. Die Hoffnung ist bei den Gästen zuerst gestorben.

Trotzdem haben die Gäste das Hoffen nicht ganz aufgegeben. Nur ist es nicht das Hoffen auf Leben, sondern das Hoffen auf den nächsten Tag, auf Familienbesuch oder auch nur auf ein paar wache Momente und Erinnerungen. Manchmal ist es sogar nur der Wunsch nach dem Lieblingsessen. Es sind die kleinen Dinge, die in diesem Haus zählen. Deswegen werden die Gäste jeden Tag gefragt, was sie essen wollen. Soweit es machbar ist, wird jeder Wunsch erfüllt. Dafür wurde extra ein Koch eingestellt. Wie zu Hause ist auch im Hospiz die Küche der Treffpunkt für alle: Pflegekräfte, Ehrenamtliche und, soweit sie ihre Zimmer noch verlassen können, auch für die Gäste. Hier wird zusammen gefrühstückt, geredet und gelacht - fast könnte man vergessen, was vor der Küchentür ist.

Ein Gast wollte unbedingt Zigaretten haben, aber nicht irgendeine Sorte, die großen sollten es sein, von einer Marke, die ich schon wieder vergessen habe. Eine Pflegerin bat mich, für ihn die Zigaretten kaufen zu gehen. Zigaretten? Für einen krebskranken Mann? Ob er Lungenkrebs hat, traute ich mich gar nicht zu fragen. Erst zu Hause wurde mir klar: Es wäre auch egal gewesen. Genauso wie es völlig egal ist, ob er zehn Packungen am Tag raucht oder nur eine.

Frau K. hofft jeden Tag darauf, am nächsten Tag den Zug zu ihren Eltern zu bekommen. Und jeden Tag ärgert sie sich, dass die Schwestern sie wieder nicht rechtzeitig geweckt haben. Dabei hatte sie doch den Koffer schon am Abend vorher fertig gepackt. "Meine Eltern warten doch auf mich. Sie machen sich Sorgen", sagt sie. Frau K. ist 85. Ihre Eltern sind lange verstorben, und es gibt keinen Zug, der auf sie wartet.

Der Zug ist für sie Hoffnung. Einmal wird sie den Zug bekommen - und ihr Bett wird leer sein.

Glaube

Herrn H. kennen Sie schon. Letztes Mal hat er mich gefragt, warum ich mir das eigentlich antue. Das mit dem Hospiz. Ob ich religiös sei. Ich habe Ja gesagt und mich gleichzeitig gefragt, wann ich eigentlich das letzte Mal in der Kirche war. Dass der Glaube trotzdem Teil meines Lebens ist, das merke ich vor allem hier im Hospiz. Vielleicht ist es auch die Angst vor dem Tod, die den Glauben wieder sichtbar macht. Herr H. jedenfalls schaut mich an, als wolle er sagen: "Warten Sie mal ab, ob sie noch religiös sind, wenn sie so alt sind wie ich." Ich habe also versucht, Herrn H. zu erklären, warum ich regelmäßig ins Hospiz komme. Dass es ein gutes Gefühl ist, etwas für andere zu tun. Dass die Arbeit im Hospiz mir mehr gibt, als ich zurückgeben kann.

Ich glaube, er hat mich nicht verstanden. Nicht verstanden, wie man diesen Ort freiwillig betreten kann. Herr H. ist nicht religiös. Und das stört ihn auch nicht. Mit Gott kann er wenig anfangen. Er glaubt nicht, dass ihm Glaube bei irgendetwas helfen würde, auch nicht an diesem Ort. Er sucht nicht nach Halt und Sinn. Herr H. ist ein durch und durch rationaler Mensch. Er sagt, "danach kommt nichts", nach dem Tod. Für mich eine furchtbare Vorstellung. Ich will glauben, dass etwas kommt, dass nicht alles einfach so vorbei ist.

Vor einigen Jahren habe ich viel über das Thema Sterbehilfe recherchiert. Über die Frage, ob es richtig ist, anderen beim Sterben zu helfen. Über aktive Sterbehilfe, passive und das Wort Palliativmedizin. Es ist schwer, über diese Dinge zu schreiben, wenn das Thema Sterben noch so weit weg scheint. Ich frage Herrn H., ob er den Tod beschleunigen würde, wenn er denn könnte. Seine Antwort braucht nicht lange. Er habe sich abgewöhnt, über Dinge nachzudenken, die er sowieso nicht ändern könne.

Ich denke häufig über Dinge nach, die ich nicht ändern kann. Aber im Hospiz verlieren diese Dinge, verlieren viele Probleme ihre Bedeutung. Wenn ich das Hospiz verlasse, sieht die Welt immer ein Stückchen anders aus. Ich sehe Dinge, die mir sonst gar nicht aufgefallen wären, und nehme die Hektik der Menschen anders wahr. Ich schaue Kinder anders an, frage mich bei älteren Menschen, wie es ihnen geht. Doch lange hält dieser neue Blick nicht.

Zeit

Ich habe es einmal zwei Wochen nicht geschafft, ins Hospiz zu gehen. Ich fragte die Pfleger nach Herrn H. "Herr H. ist leider nicht mehr bei uns." Ich fragte nach Herrn F. und Frau K. - und bekam die gleiche Antwort. Keiner der Gäste, mit denen ich bis dahin gesprochen hatte, war noch da. Dabei waren doch erst zwei Wochen vergangen. Wenig Zeit in meinem Leben. Im Hospiz spielt Zeit keine Rolle. Denn Zeit ist das, was hier niemand mehr hat.

Ab und zu saß ich einfach bei Herrn L. am Bett, während er geschlafen hat. Die Schwestern hatten mir erzählt, dass er Angst hat, alleine zu sein. Dass er gerne jemanden bei sich hat, wenn er aufwacht. Angst vor dem Schlafen, sagen sie, ist häufig ein Zeichen dafür, dass der Tod nahe ist. Auch Herr L. träumt vom Tod. Immer mal wieder wacht er auf, blickt um sich und sagt "Schlafen, schlafen, schlafen". Ich weiß nicht, ob es ein Wunsch ist oder die Angst davor, nicht mehr aufzuwachen. Es fällt mir schwer, einfach so an seinem Bett zu sitzen. Ich hole mein iPhone aus der Tasche. Denke, ich nutze die Zeit sinnvoll und lese schon einmal meine E-Mails. Doch irgendwie fühle ich mich dabei schlecht. Was, wenn Herr L. aufwacht und ich auf mein iPhone starre? E-Mails, aktuelle Nachrichten, all das wirkt hier fehl am Platz. Die Welt dreht sich draußen weiter - hier drinnen ist es egal, ob die Wirtschaft in der Krise steckt oder Merkel schlechte Umfragewerte eingefahren hat.

Meine zwei Stunden im Hospiz fühlen sich jede Woche wie eine Vollbremsung an. Die rote Ampel, die mich aus dem Alltag reist. Die Gäste hier in Pankow brauchen keine rote Ampel mehr, um über Zeit nachzudenken. Wenn Herr L. aufwacht, erzählt er von seinem Leben. Er erzählt es so, als sei es schon zu Ende. Herr L. hat bei der Lufthansa gearbeitet. Er hat gerne gearbeitet, ist weit gereist. In Lateinamerika hat er gelebt. Am Anfang sei seine Familie noch mitgefahren, dann nicht mehr. Ich traue mich nicht nachzufragen. Besuch bekommt Herr L. wenig. Ich erzähle ihm von WELT AKTUELL, der Zeitung der WELT-Gruppe, die jeden morgen für die Lufthansa produziert wird. Er lächelt, will die Zeitung sehen. In der folgenden Woche bringe ich ihm eine Ausgabe mit. Doch sein Bett ist leer.

Liebe

Es ist eine andere Welt. Das Fotoalbum, das ich in der Hand gehalten habe. Es sprach von anderen Zeiten, besseren. Die Bilder waren gerade einmal wenige Jahre alt. Der 60. Geburtstag. Freunde zu Besuch. Ein Wochenende an der Ostsee. Der Mann auf den Fotos hat mit dem Mann neben mir im Bett nicht mehr viel gemeinsam außer dem Namen. Neben mir liegt nur noch ein Schatten - aber das Lächeln, das ist geblieben. Im Hospiz sind plötzlich nur noch wenige Dinge wichtig. Allen voran die Familie und Freunde. Gegenüber vom Hospiz ist ein Kindergarten. Manchmal hört man das Lachen der Kinder in den Zimmern.

Ich gehe meistens zu den Gästen, die weder Familie noch Freunde haben. Die alleine sind mit sich - und dem Warten auf den Tod. Vor Kurzem wollte ich zu einem dieser Gäste gehen. Die Pflegerin klopfte an seine Tür, fragte ihn, ob sich eine Ehrenamtliche zu ihm setzen könne. Seine Rückfrage: Wie sieht sie denn aus? Über den Humor im Hospiz könnte man einen ganz eigenen Text schreiben. Jeder Gast hat hier in Pankow ein eigenes Zimmer. In jedem Zimmer steht das gleiche Bett, der gleiche Tisch, die gleichen Schränke. Und doch sind alle Zimmer anders. Sie sind gefüllt mit persönlichen Dingen, Bildern, Pflanzen, Fotos. Jedes Foto erzählt eine Geschichte, gibt mir eine Ahnung davon, wie das Leben vorher war - vor dem Hospiz.

Manchmal denke ich, man kann das Leben an der Anzahl der Fotos im Raum messen. Sicher ist das Unsinn. Ich werde häufig gefragt, was ich denn zu den Gästen im Hospiz sage, wie ich sie begrüße. Ich sage gar nichts. Und das ist auch nicht nötig. Meist reicht ein "Guten Tag", und die Menschen fangen von sich aus an, mit mir zu sprechen, mir ihre Geschichte zu erzählen. Es interessiert dann nicht mehr, dass sie mich noch nie vorher gesehen haben. Vielleicht vergessen sie mich auch, sobald ich das Zimmer verlassen habe.

Eine Sache eint die meisten Gäste in Pankow. Sie möchten ihre Lebensgeschichte erzählen, möchten ihre Erinnerungen mit jemandem teilen. Meistens weiß ich nach meinem Besuch viel mehr über die Angehörigen als über die Gäste selbst. Für sie sind Erinnerungen und Fotos häufig der letzte Faden zum Leben - und wahrscheinlich das, was das Warten erträglicher macht.

Tod

Immer, wenn im Hospiz ein Gast verstorben ist, brennt neben seiner Tür eine Kerze. Deswegen geht mein erster Blick, wenn ich im Hospiz ankomme, erst einmal den Gang entlang. Ich denke nicht gern über den Tod nach. Niemand denkt gern über den Tod nach. Wer aber über den Tod nachdenkt, denkt meistens auch über den Ort nach. Laut Umfragen möchten über 90 Prozent aller Menschen zu Hause sterben. Tatsächlich sterben etwa 50 Prozent der Menschen im Krankenhaus und weitere 20 Prozent im Pflegeheim. Das wollte die Hospizbewegung ändern. In Deutschland wurde das erste stationäre Hospiz 1986 in Aachen gegründet, heute gibt es um die 160 Häuser. Sie alle haben es sich zur Aufgabe gemacht, den Todkranken zu helfen, nicht nur in Frieden zu sterben, sondern auch bis zuletzt zu leben.

Meinen letzten Text sollte ich wohl über das Wort "Tod" schreiben, sozusagen der logische Schlusspunkt nach einer Woche, in der es um das Leben und Sterben in einem Hospiz ging. Aber ich möchte die Woche lieber mit etwas anderem beenden und noch einmal über Hoffnung schreiben. Das ist positiver und passt auch besser zu meinen Erfahrungen aus dem Hospiz. Außerdem fällt mir dann sofort Frau F. ein. Wer Frau F. kennenlernt, der weiß, was positiv ist. Frau F. freut sich über alles, darüber, dass sie im Hospiz sein darf und nicht im Krankenhaus bleiben musste, dass sie ein schönes Zimmer hat, dass sie jeden Tag in den Garten gehen kann. Es gibt nur eine Sache, über die sie sich nicht freut. Dass ihre beste Freundin bald alleine sein wird. Jeden Tag haben die beiden sich gesehen, zusammen gegessen und zusammen Backgammon gespielt. Frau F. macht sich große Sorgen, zu wem ihre Freundin gehen soll, dann.

Wenn ich mit Frau F. spreche, rede häufig ich, sie hört einfach nur zu und gibt mir gute Ratschläge. Letztes Mal hat sie mir einen schönen Urlaub gewünscht und mich gebeten, ihr beim nächsten Besuch Fotos mitzubringen. Das habe ich getan, aber sie konnte sich nicht an mich erinnern, wusste nicht mehr, wer ich bin und warum ich ihr Bilder mitgebracht habe. Erst war ich enttäuscht. Wir hatten doch so lange und persönlich miteinander gesprochen. Ich hatte viel an sie gedacht im Urlaub. Dann habe ich ihr mein Leben einfach noch einmal erzählt. Und sie hat mir wieder gute Ratschläge gegeben - dieselben wie bei unserem letzten Gespräch.

"Ich komme nächste Woche wieder", habe ich ihr zum Abschied gesagt. Es ist ein unsinniger Satz hier in Pankow. Die nächste Woche ist sehr weit weg - vielleicht zu weit.

Was sagt man jemandem der im Hospiz liegt?

Angehörige können sich in die Warte des Patienten hineindenken und -fühlen, indem sie sich folgende Wünsche vergegenwärtigen (aus Patientensicht): Ich bin ein lebendiger Mensch bis zu meinem Tod. Ich will hoffen dürfen, auch wenn sich die Gründe für mein Hoffen verändern.

Wie lange lebt man noch wenn man im Hospiz ist?

Wie lange darf ich im Hospiz bleiben? Eine zeitliche Begrenzung des Aufenthaltes im Hospiz gibt es nicht. Sollte die ärztliche Verordnung für einen befristeten Zeitraum von der Kasse bewilligt werden, so kann sie bei Bedarf verlängert werden. Im Hospiz gilt, dass dem Sterben die Zeit gelassen wird, die es braucht.