Wer heute ovid verse liest ist meist verblüfft

Der wie so ein „Bankmensch“ wirkende Bankmensch schnattert und frotzelt und plustert sich auf im „Schweigeabteil“, Ruhebereich im Zug. Über sein blitzendes Smartphone hört er ohne Kopfhörer Beethoven. Auf den vormärzgrauen Feldern stehen Kraniche, Kunden, die einfach nichts kaufen wollen. Eine Frau verlässt entnervt das Abteil. „Deutsche Bank“, sage ich zu ihr, und zeige auf den Bankmenschen, der auf seiner Polsterbank eingeschlummert ist. Er schnarcht wie Donald Trumpf. Zwei kräftige Kerle kommen und tragen ihn in den Korridor. „Sollen wir ihn aus dem Fenster werfen?“, fragen sie uns Übrige im Abteil. „Nein“, sage ich tonlos. „Er ist ja ein Mensch, auch wenn er das nicht weiß.“ Sie setzen den Bankmenschen auf eine Bank im Schaffnerabteil. Stille tritt ein, und sie verlangt keinen Fahrschein.

FREE JACK ENGLE!

„Puschkinallee“ steht auf der großen weißen, still in der Abenddämmerung vertäuten Wannseefähre.

Meistbietend verscherbelt und zu Geld, Geld, Geld gemacht wird der Wortlaut des in einem digitalisierten US-Zeitungsarchiv entdeckten Romans „Life And Adventures of Jack Engle. An AutoBiography“ von Walt Whitman, ein Buch, das seit 1961 – volle 70 Jahre nach Whitmans Tod – von Rechtswegen eigentlich rechtefrei ist und somit für die Allgemeinheit kostenfrei zugänglich. Nicht aber in unserer Zeit. Viva Las Vegas!

Ob ich wisse, wer den Ausdruck „loneliness“ erfunden habe, fragt mich das Kind, und ich denke: Erfunden? Ist der Begriff nicht eher gewachsen über die Jahrhunderte und Jahrzehnte, auch weil ja jeder etwas darunter versteht? „Shakespeare“, sagt das Kind.

„Nothing is ever really lost, or can be lost.“ Walt Whitman

Während ich meine Bücher schreibe, mit Blick auf den Innenhof, das allmählich wieder erwachende Leben der Elstern, erlebe ich als Beobachter und Zuhörer zugleich die Kindheit, das Heranwachsen des Nachbarjungen. (24.2.)

In der Zentralbibliothek, während es draußen schüttete, eine halbe Stunde lang Gedichte von Tomas Venclova gelesen. Eine Luft, die darauf zu warten schien, dass nur noch eine einzelne Stimme zu hören ist.

Das neue Album von Mark Kozeleks Sun Kil Moon ist erschienen: „Common as light and love are red valleys of blood“.

Die letzten Februartage sind grau wie die zurückliegenden Wochen und Monate. Hellere Pausen und Unterbrechungen nur der Kitt zwischen grauen Platten. 14 Uhr am Mittag – schon springen flackernd die Lichter der Straßenlaternen an.

Jeden Morgen, wenn ich an dem Schulhof vorbeikomme, muss ich denken, dass alle Schulhöfe auf der Welt – der Welt – gleich klingen, wie ein Schulhof der Welt. Mark Kozelek singt: „… these kids I hear outside my window I was one of them I was one of them I was one now I’m the old man in the chair deep in thought in the living room I’m that old man now and I’ m grateful I’ve got this far and that I’ve become him“ – („God bless Ohio“).

Mit der Geschwindigkeit der Schnecke wird es Frühling, zum x-ten Mal. Traurig flötet ein Zilpzalp im Innenhof – im Innenhof meines Journals –, herunter von einem Baugerüst, dem Baugerüst meines Journals.

Wer heute ovid verse liest ist meist verblüfft
Ein Abend in der S-Bahn, es ist Winter. Klirrende Luft, der Waggon ist voller Leute. Da telefoniert eine Frau aus Wisconsin über Skype mit ihrem Hund daheim.

Durch die vereisten Zäune ragen bedürftig des Stoffes, der Haut und des Menschenfleischs die stachligen Äste eines Dornengestrüpps. Aber Jesus, da sind nur Fahrbahn, Abgase, bitterkalte Februarnachtluft. (Steilshoop, 12.2.)

Im Schwimmbad beobachte ich das junge Mädchen im Nixenbadeanzug: Seine Beine und Füße stecken in einer im Wasser violett schimmernden großen Flosse. Die anderen kleinen Mädchen im Becken können das Wunder nicht fassen. Sie waren sich so sicher, dass es Nixen nicht geben kann!

Aber lass die Enttäuschung.

Wer heute ovid verse liest ist meist verblüfft
Weniger auf dem Bild, vielmehr anhand des Bildes erkenne ich mich wieder: März 1998, LCB, Treffen der von Schweizer Autorinnen und Autoren ins Leben gerufenen Gruppe NETZ. Um die große Tafel herum schritt schweigend Renate von Mangoldt und schoss ihre genauen Augenblicksbilder. Peter Weber, Perikles Monouidis, Felicitas Hoppe, Michel Mettler, Katharina Hacker. Ich erinnere mich an einen abendlichen Tanz mit Julia Franck. Und an zwei Zeichnungen, die ich machte, auf einem gelben, linierten Block.

Wer heute ovid verse liest ist meist verblüfft
Endlich, finalement, Frühling, printemps, oder wenigstens der Vorbote, der Vorfrühling. Ende des halbjährigen Winters – oder fast. Vorvorfrühling. Pré-printemps.

Durch den Vorgarten steigt die Katze, von der ich letzte Nacht träumte.

Nur die Güte lässt dich schlafen – oder ist es das Ignorieren deiner üblen Gedanken? Was du anderen vorwirfst, du wirfst es eh nur dir selber vor. Der Groll, die Wut, der Zorn, deine Angst und dein Glaube an die Macht der Sorgen („Ich habe die ganze Nacht lang nicht schlafen können!“ – Mantra deiner Kindheit und Jugend) treiben dich in den halb wachen, halb durchdösten Furor. Und du weißt, du wirst die ganze Nacht lang nicht schlafen können.

Wie gesund der Krebsarzt sich in deiner Gegenwart gibt. Wie schwach, wie matt und moribund du dich fühlst in seiner Anwesenheit. „Mori…was?“ Er weiß alles, er weiß nichts. Beschwichtigt, immerhin. Tut sich groß, bah. Bläst sich auf, pffff. Winkt ab. Versager. Mickriger Medizinmann. Man möchte ihn zum Fenster rauswerfen.

Luis Buñuels Mirabeau-Verfilmung „Tagebuch einer Kammerzofe“ hat mich enttäuscht, aber ich muss gestehen, dass ich seit Wochen immer wieder an den Film zurückdenke. Die zurückgehaltene Lust, die herausplatzende Gewalt, der groteske Ekel des Spießertums vor sich selbst. Fetischistische Senioren. Gewürgte, begrapschte Kinder. Wenn Michel Piccoli mit seiner Schrotflinte einen Schmetterling erschießt, denke ich erst: Bah, wie geschmacklos. Dann: echt rebellisch. Dann: die erruptive Poesie. Dann: eigentlich bloß blöd anti-bürgerlich. Shock-maker. Aber ich selber bin mir seither ja der Beweis, dass diese Aufrauung Buñuels Ziel gewesen sein muss. Traum eines böse gemachten Kindes. Und das Kind hat die so schönen wie starren Augen Jeanne Moreaus.

Natürlich, das Sterben geht weiter. (Wenn diese Welt etwas beherrscht, dann ist es das Sterben.) John Hurt ist gestorben, David Lynchs „Elephantenmensch“ ist Geschichte. (28.1.2017)

Für fünf Tage Gäste aus Weißrussland. Sie belächelten den Luxus in den Barmbeker Straßen; sie kochten sich Würste und aßen sie auf Spiegeleiern, sie belächelten deinen Band mit russischer Poesie. „Mirko! Another question!“ Wundervolle Höflichkeit. Sie bekamen ein Funkeln in den Augen, sobald das Gespräch auf Minsk kam. Minsk. Draußen, der Winter – kein wirklicher Winter. Alles in der Küche blieb in Frauenhand. Alles Organisatorische war Männersache. Mächtige Fellmützen während Ausfällen in die Umgebung. Keine Politik. Keine Poesie. Kein Obst.

Plötzlich – ja, plötzlich! – wieder Schnee. Erst regnete, dann regnete es gesprenkelt mit weißen Funken, dann ging der Regen über in Schnee und hörte darin auf: verregnet, zerregnet. Dann schneite es fünf Stunden lang. Und die Bürgersteige und Vorgärten taten ihr Bestes, um weiß zu werden: Alles verhielt sich still.

Du warst noch bis halb acht allein zu Haus – dann flogst du mit dem dunklen Mantel in die Nacht als Fledermaus.

Mon canard dort sur ma chemise blanche. Mein herrlicher Französischkurs. J’habite dans une pomme et j’achète une jolie jupe rouge!

Tulpen in der Vase, wie sie vortäuschen, lebendig und schön zu sein, die Tulpen, die nichts als toten, schönen, duftenden schönen Toten, die Tulpen.

Das Gebrabbel von Babel.

„Tag des Großen Schneiens: eine Art Weltspartag“ Peter Handke

Wenn ich eins hasse – nein, hasse nichts, nicht mehr! –, dann Wartezimmer von Arztpraxen, wo man minütlich deutlicher erkennt, man könnte ebenso – für alle dort: Kinder, Patienten, Praxisangestellte, Ärzte, DHL-Kuriere – bereits gestorben und in einer solchen Vorhölle gelandet, man könnte nichts weiter mehr als irgendein Toter sein.

Bevor das Kind aus dem Bus steigt, um durch die Dunkelheit zur Schule zu laufen, knipst es an seinen Sneaker-Sohlen die Lichter – die LEDs – an. (Lurup, 19.1.)

Die Alten, die sich auf der Winterterrasse der Einkaufsmall treffen … gna, gna, gna – gna, gna! Gna, gna, gna! Gna, gna!

Höcke – ab, nach Aleppo.

Die Alten, die sich auf der Winterterrasse der Einkaufsmall treffen … tratschen, lachen einander zu, johlen und rufen wie Kinder, wie 65 Jahre alte Kinder. (Steilshoop, 19.1.)

Gegen die Kaltherzigkeit!

Kein Buch ohne Wrack.

Erinnerst du dich? An das Aquarium deines Großvaters? Die Guppys, die Scheibenputzerwelse? Du warst sieben, acht Jahre alt, und dein Erstaunen grenzenlos, wenn Opa mit dem Kescher einen toten Fisch aus dem Wasser hob. Stumpf, leblos, aber immer noch bunt schillernd lag er in dem weißen Netz, das sich seinem Körper anschmiegte. Aber am schönsten und ruhigsten waren die beiden Mammutskalare mit ihren hohen Flossen, ihrem flachen, aufrechten Körper, der getigert war und schimmerte. Mamas Kosename deshalb: „Mammutskalar“.

Ein Trubel, ein Jubel, Spektakel und Theater, Pose, Zorn, Gelächter: Ein Pulk aus sieben Halbstarken, wie man sagt, eigentlich aber Ganzstarken – noch nicht Verkümmerten und Verblassten, Müden und Ausgelaugten, Verbitterten und Verblödeten –, fläzt sich in zwei Bussitzreihen, grölt, ruft, staunt und feixt: „Digga, die Hure gesehen?“ – „Ist die Hure, Digga?“ – „Nee, noch nich!“ – „Also, Digga, chill.“ – „Abba bald, Digga, meine ist die, meine Hure!“ – Sie steigen aus beim Soulkebab, ohne ein Gespenst wie mich eines Blickes zu würdigen. Wie unfassbar bedeutsam wieder Blicke sind. „Kuckst du? Kuckst du?“ Kein Dichter hat das voraussagen können. (Barmbek, 5.1.2017)

Vor der Bäckerei, in ihrem goldenen Morgenlicht, einem Barren aus Licht, steht ein bibbernder Dalmatiner und wartet auf seinen Menschen.

Erinnere dich: an die beiden Albatrosse, die während der Überfahrt auf der Drake-Passage der „Bremen“ folgten – erst ein beinahe unsichtbarer Punkt in weiter Ferne, dann zwei, die immer näher kamen, simultan segelnd, kreuzend, wie Wellen in der Luft unter dem hellblauen Wasserhimmel.

Zwölf Jahre lang stand die Artemide-Lampe unter einer Treppe, in einer Abseite, einer kalten Mansarde zuletzt. Als ich sie wiedersah – wiederbemerkte –, war ich wieder 27 und baute mir selber Lampen, die der unerreichbaren Artemide glichen. Heute ist sie eine in die Jahre gekommene Schönheit. Als ich sie anschalte, wird es im Zimmer (meines Lebens) hell.

Das Kind tanzt im hellen Zimmer auf dem Parkett, wo die alten Dielenbretter den immergleichen klagenden Laut von sich geben. „Das Zimmer singt“, sagt das lachende Kind.

„… if there is anything good about exile, it is that it teaches humility. One can even take it a step further and suggest that the exile’s is the ultimate lesson in that virtue. And that it is especially priceless for a writer because it puts him into the longest possible perspective. ,And thou art far in humanity‘, as Keats said. To be lost in mankind, in the crowd — crowd? — among billions; to become a needle in that proverbial haystack — but a needle somebody is searching for – that’s what exile is all about. Pull down your vanity, it says, you are but a grain of sand in the desert. Measure yourself not against your fellow penmen but against human infinity: it is about as bad as the inhuman one. Out of that you should speak, not out of your envy or your ambition …“ Joseph Brodsky, „The condition we call exile“, 1987

Wer heute ovid verse liest ist meist verblüfft
Ein vielsagender Lapsus unterläuft Brodsky hier in dem so brillant eingesetzten Keats-Zitat. Statt aus dem Jambus gefallen „And thou art far in humanity“ heißt es nämlich bei John Keats „And thou art distant in humanity“, statt „Und du bist in der Menschlichkeit weit“ also „Und du bist fern inmitten aller Menschen“. In seinem Versepos „Isabella; or, The Pot of Basil“ von 1820 verarbeitet Keats eine Novelle aus Boccaccios „Dekameron“: Isabella soll mit einem „Edelmann und dessen Olivenbäumen“ verheiratet werden, liebt aber den Angestellten Lorenzo, der daraufhin von ihren Brüdern ermordet und verscharrt wird. Lorenzos Geist erscheint ihr im Traum und berichtet Isabella, wo sein Körper zu finden ist; sie gräbt ihn aus und beerdigt Lorenzos Kopf in einem Basilikumtopf, der in ihrem Zimmer steht. Brodsky deutet durch das Zitat an, dass Exil stets eine von einem Einzelnen empfundene, kaum mitteilbare existientielle Demütigung darstellt – weshalb er in dem Ausschnitt aus seinem für eine internationale Tagung von Exilanten verfassten Aufsatz versteckt auch auf Ezra Pound hinweist, den wohl bedeutendsten us-amerikanischen Dichter des 20. Jahrhunderts. Aufgrund seines fatalen Engagements für den Faschismus Mussolinis wurde Pound nach der Befreiung Italiens von US-Truppen gefangengenommen und längere Zeit in einem Käfig „ausgestellt“, bis man ihm den Prozess machte. Der Todesstrafe entging Pound allein durch ein Gutachten, das ihn für geisteskrank erklärte. Für 12 Jahre war er Insasse in einer staatlichen Heilanstalt, ehe er nach Italien auswanderte und bis zu seinem Tod 1972 in Venedig lebte. Vom Faschismus distanziert hat er sich nie. Brodskys Ausruf „Pull down your vanity, it says, you are but a grain of sand in the desert“ geht auf Ezra Pounds Pisaner Canto LXXXI zurück, in dem es heißt: „Pull down thy vanity / How mean thy hates / Fostered in falsity“. Brodsky und Pound liegen in Rufweite zueinander bestattet auf der Friedhofsinsel San Michele in der Lagune von Venedig. Pounds Grab wirkt monumental und karg zugleich, antikisch, archaisch. An Brodskys ist ein Briefkasten befestigt. Hier die 39. Strophe aus „Isabella; or, The Pot of Basil“ von John Keats:

„«I am a shadow now, alas! alas!
«Upon the skirts of human-nature dwelling
«Alone: I chant alone the holy mass,
«While little sounds of life are round me knelling,
«And glossy bees at noon do fieldward pass,
«And many a chapel bell the hour is telling,
«Paining me through: those sounds grow strange to me,
«And thou art distant in Humanity.“

Bild: William Holman Hunt: „Isabella and the pot of basil“, 1868, Öl auf Leinwand; Laing Art Gallery, Newcastle-upon-Tyne

Zum ersten Mal hörte ich genauer zu, was – nein: wie eine Elster erzählt. Denn dass sie erzählt, daran kann kein Zweifel bestehen, außer vielleicht in den Erzählungen der Ornithologen; aber die zählen hier nicht, oder nicht mehr als alle anderen. Die Elster gurgelte, schackerte, kollerte, piepte, krächzte und sang, ja kurz flötete sie sogar. Und saß dabei allein, elsterseelenallein oben im kahlen Geäst – offenbar ein Selbstgespräch.

Jeden Donnerstag tritt der junge Hausmeister in den begrünten Innenhof und geht unter meinem Fenster vorbei wie der von seinen Aufgaben bekümmerte Tod.

Ein Tag grauer als der vorige, und der nächste, Wittgenstein zum Trotz, mit Sicherheit noch grauer, noch novembriger. Warum? Im Ernst: Weshalb dieses ewige Gleiche in der Hässlichkeit? Warum ist das Üble, das Zerstörerische und Bekümmernde beinahe stets das Vorherrschende? Denn wir alle wissen doch, wie lachhaft sie sind: der Tod und sein Kurier der Schmerz und alle seine Claqueure: die Niedergeschlagenheit, der Liebeskummer, der Stumpfsinn, die Verfemtheit, die Verzweiflung, die Mutlosigkeit, das Selbstmitleid, die Erbärmlichkeit und so weiter und immer so fort.

Im grauen Regen sehe ich eine schillernde Elster – dieselbe, die sich mit Selbstgesprächen die Zeit vertreibt? – an einer Backsteinhauswand sitzen. In der Vertikalen. Wie eine Fliege von der Größe einer Elster.

Handkes Verwandlung, sobald er anfängt, von Politik zu schwadronieren.

Das Kind zuckt zusammen, sobald das wilde Kind ins Haus gebrochen kommt. Das wilde Kind lacht, johlt, singt, brüllt, stampft und schreit, ob im Treppenhaus oder Keller, im Badezimmer oder Flur, wo es für gewöhnlich Fußball spielt. Das Kind blickt bestürzt zur Decke: Das wilde Kind ist zurück! Der Staub rieselt von den Wänden. Seine Mutter versucht das wilde Kind zu beschwichtigen, vergeblich. Vergeblich! Das wilde Kind heult gegen die Mauern an, bis sie sich öffnen werden oder bis das wilde Kind vergisst, weshalb es eine solche Wut in sich trägt. (Barmbek, 16.12.)

„Ich träume, dass eine Dame, die mir ins Gesicht blickt, sagt: ,Ich sehe, Sie waren bei dem Wettbewerb dabei, aber ich kann an Ihrem Gesicht nicht ablesen, ob sie gewonnen haben oder nicht.’“ John Cheever

Erinnere dich: an die Erzählung deiner Jugendliebe von ihrem jugoslawischen Onkel. Kurz bevor die Familie in Hamburg ins Auto stieg, sagte er ernst: „Jeder, der noch mal muss, der gehe jetzt! Denn ihr wisst, ich halte erst wieder in Belgrad.“

„Man kann nie wissen“ – im Grunde ein quantentheoretisches Axiom in Form einer Redewendung, eines geflügelten Wortes. Auch darin zeigt sich die Tragweite der Bohr’schen Revolution (die die Leute gar nicht mitbekommen haben): Die Quantentheorie ist zutiefst demokratisch, ein Akt der Befreiung vom Joch der Newton’schen Mechanik, nach der alles wissbar, ausdrückbar, erklärbar, darstellbar sei. Bohr sagt: „Man kann nie wissen, es sei denn, hm …“

Änderungsschneiderei an der Fuhlsbüttler, der „Fuhle“: eine vermeintliche Familie. Der Schneider ist mit Wichtigerem beschäftigt, die Frau kommt aus dem Hinterzimmer und grüßt kurz, der Sohn ist der Zauberlehrling, der eine Hose kürzt. Doch alles scheint bloß so. Und dazu singt – nein tschilpt resigniert – über dem Nähtisch des Schneiders der Kanarienvogel in seinem Käfig. (Barmbek-Nord, 24.11.)

Wer heute ovid verse liest ist meist verblüfft
Der Aasee, schön, beinahe unwirklich im verspäteten Oktoberlicht. Aber da ist nichts, was darüber ein Gedicht zu schreiben nur möglich erscheinen lässt. Einer wie ich geht umher im Promenier-Idyll. Obwohl es ja bestimmt ein Licht gibt, irgendwo, irgendwann, in dem auf eine Weise die Dinge leuchten und erstrahlen, dass alles Verfälschte und Gestellte darin (oder daran) verfliegt, und zwar augenblicklich. Ein Licht, in dem das Unwirkliche verschwindet, weil es zurücksinkt. Aber wo, und wie? Das gilt es herauszufinden? Und diese Leute, ihre Gesichter, sind nicht die schlechtesten Wegweiser, nein nein. Wir alle sind zufrieden, viele scheinen glücklich, wollen gar nichts Echtes, lieber, was sie hier am Aasee haben. Nein, in Wahrheit halten sie das, was sie hier sehen, für das einzig Wirkliche und Wahre. Es gibt nichts Anderes, kein anderes Licht in diesem Augenblick. Also? Guck, das schöne Licht. (Münster, 26.11.)

Der bürgerliche Entwurf ist ein Übergriff und daher vielleicht hinzunehmen – von jedem, der sich dazu entschließt –, nicht aber „wahr“ oder gerecht.

Der Steinmetz fährt ein besonders wendiges und schmales Lieferauto – um zwischen den Gräbern umhermanövrieren zu können? Einer, der bei den Skeletten arbeitet.

Weißt du noch: deine Großmutter? Wenn sie zum Arzt „in den Ort“ fuhr, stand sie schon eine Dreiviertelstunde vor Abfahrt des Busses an der Haltestelle. „Man kann nie wissen“ – auch ein Kindheitsaxiom. (4.12.)

Heute wählen die Österreicher ihren neuen Bundespräsidenten, den Rechtspopulisten H. oder den früheren Grünen-Chef Van der Bellen, den manche hilflos „Öbama“ nennen. Heute ist Rilkes Geburtstag. Er wird 141.

In dem alten, halb verwilderten Wäschegarten im Innenhof des Nachbarblocks haben sie sämtliche Bäume gefällt. Zersägt in von halbwegs kräftigen Kerlen zu verladende Holzscheiben – sterbende Uhren –, liegen die Stücke im novembernassen Gras und verströmen abends und morgens einen betörenden Geruch in der Straße – nicht den der Trauer, den des Lebens. (17.11.)

Wer heute ovid verse liest ist meist verblüfft

Dieses Foto fand ich auf dem Bürgersteig vor den Mülltonnen, es zeigt Spuren des Regens, der Schuhe, die darauftraten, der Räder, die darüberfuhren. Ein Zufall, ein Windstoß hat es bewahrt vor dem Schredder, dem Feuer. Eine seltsame Szene hält das Bild fest, so banal wie archaisch, eine stille Poesie, die mich sogleich ergriff, als ich das Foto im aufgeweichten Laub liegen sah. Ein Feld. Sechs darin beschäftigte, zumeist junge Leute. Ein mögliches Gemälde-Motiv, wäre eine andere Zeit. So aber bloß ein Foto, weggeworfen. Wonach wird dort gesucht? Nach dem Sinn.

In der Abenddämmerung durch den Stadtpark. Das blaue Licht. Das Wasser. Die Leere über dem weiten Gras, und das Schwarz, die Stille der Bäume. (Winterhude, 18.11.)

Der schöne Zufall, ein poetischer Bote, als beim Umzug in die neue Bude der Freund das einzige Buch aufschlägt, das in der Gegend herumliegt: KEATS. Und laut vorliest: „Once more been tortured with renewed life.“ Kurz vor Schluss des ersten Teils in Keats’ Epos lässt Endymion seine Begegnungen mit der ihm rätselhaften Mondin Revue passieren. Vor 24 Jahren übersetzte ich die Passage, die in die Werke-Ausgabe nicht aufgenommen wurde, so: „Und schwerer noch befiel mich jetzt der Gram, / Als da ich aus dem Mohn der Hügel kam: / Und ein jahrzehntelanges Zaudern kroch / Hier faul vorbei, eh größre Freude noch / Jäh auf die tödlich gelbe Schwermut fiel. / Ja, dreimal sah ich dieses Zauberspiel; / Ward noch einmal geplagt mit neuem Leben.“

Elsternfüttern im Innenhof.

Wenn die Männer mit den gelben Laubsaugern und den gelben Laubsaugeranzügen von ihren Transportern springen, um im Viertel die Vorgärten und Innenhöfe von Laub zu säubern, den Herbst zu eliminieren mit ihrem erbarmungslosen Lärmen, dann ruf zum Fenster hinaus: „He, Heiopeis! Haut ab! Verschwindet, ihr Pissnelken! Weg, weit weg! Los, verflüchtigt euch!“ Oder ich schicke euch (in) die große Stille.

Handkes seit über 20 Jahren geliebte Notiz – „Ich sah einen Bekannten wieder: er war gescheitert, er war Sportler geworden“ – hat der Suhrkamp Verlag für mein Fehmarnbuch nicht freigegeben, da ich das Notat „nicht sinngemäß“ verwenden würde. Nach Rückfrage, wer bitte entscheide, ob ein Handke-Zitat sinn- oder unsinngemäß verwendet werde – ich würde diesem Sinnstifter von Suhrkampangestellten gern den Speichel von der Hose lecken –, wurde das Zitat freigegeben.

Für immer und einen Tag wird ihr Nashorn unter meiner Küchenbank liegen, „vom Lichte erwärmt“. Ilse Aichinger ist gestorben. (11.11.16)

Und gestern oder vorgestern starb angeblich Leonard Cohen – der nie sterben wird. Ich habe seine Lieder schon gehört, da war ich noch keine 16. O., der treulose Freund, traf als Bubi auf Cohen in den Dünen von Hydra und zehrte von der Begegnung ein halbes Leben lang: Der dunkle Fremde mit dem über der Brust offenen Hemd, der den ehrfürchtig schweigenden Jungen mitnahm in seine Schreibgemächer im Strandhaus, wo er einen Totenschädel auf dem Tisch stehen hatte. 1982 vielleicht. Zwei Jahrzehnte lang debattierten wir, ob Cohens Gedichte Literatur seien „oder bloß Lieder“ – anstatt sie zu lesen und ihre nichtswürdigen Übersetzungen zu hinterfragen. Unvergessen: sein dreibeiniger Hund im Nebel; in einem meiner Gedichte, das noch gar nicht veröffentlicht ist, taucht er wieder auf und behauptet sein Recht. Cohen war und ist eine Brücke, auf seine Weise bedeutender als Bowie und Dylan. Was Judentum heute unverändert ist, lernte ich nicht in der Schule, sondern an den Nachmittagen und Abenden, wenn ich seine Songs hörte und seine Romane las. „Das Lieblingsspiel“. „Schöne Verlierer“. Einige der Mythen herübergerettet und aufbegehrt zu haben gegen die Macht der Liebe wird sein Vermächtnis bleiben.

Am Morgen leuchtet das Gold einer russisch-orthodoxen Basilika durch die Bäume auf dem Hügelkamm – die Sonne geht auf, und das Gebäude dort oben über den Feldern voller Raureif gibt es nur in deiner Vorstellung und für zwölf, fünfzehn Sekunden. (Windeby, 13.11.)

Ob Obama sich gewundert hat über Trumps Wahl zu seinem Nachfolger? Vollmundig behauptet der Noch-Präsident, er wäre auch ein zweites Mal wiedergewählt worden. Ob er sich gewundert hätte über einen anderen Nachfolger, vielleicht Sanders, wenn der sich gegen die Todesstrafe ausgesprochen, Guantánamo geschlossen, die Bespitzelungen freier Bürger durch die NSA unterbunden anstatt gerechtfertigt und den Mut besessen hätte, eine TV-Liquidierung wie die Bin Ladens als unmenschlich zu brandmarken anstatt sie für sich auszunutzen und zu belächeln. Ob sich Obama über sich selber wundert, oder darüber, wieviel er unterließ? „In fantastischer Atmosphäre“, sagt er, habe das erste Vorbereitungstreffen auf die Amtsübergabe mit dem populistischen Hetzer Trump stattgefunden.

„Nothing’s changed but the surrounding bullshit that has grown … / And now he’s home, and we’re laughing like we always did … / My same old, same old friend … / Until a quarter-to-ten …“ Pearl Jam

Abgeworfen hat das Rennpferd seinen Jockey / und galoppiert allein durch Louisville, Kentucky.

„Die Welt ist leer, sie ist auserzählt“, sagt im Radio der Literaturkritiker, und ich schalte das Gerät aus.

„Ich glaube an Kinder, wie man früher an Apostel glaubte.“ Victor Hugo

Jeden Morgen im Moment des Aufwachens neuen Mut schöpfen zu müssen – wo ist dein Brunnen, dein Trog, deine Kelle voller Zuversicht? Das Selbstvertrauen, das Selbstzutrauen eine Art Wasser: Vertrau dir; trau dir das zu. Jeden Morgen im Moment des Erwachens die Empfindung, dein Bett steht im Freien. (Barmbek, 7.11.)

Wie die Gesichter beschreiben, die Traurigkeit, das Staunen darüber, das Hineinblicken in die vertraute Fremde? Hier sind so viele „neben der Spur“, wie sie wohl selber sagen würden. Das Gesicht zittert. Der Blick fliegt davon. Man möchte zuschlagen, eigentlich aber umarmen, lachen, abhauen, nie weggehen. Es ist ein Lied. Es ist eine Kirche. Da musst du jetzt mal sehr stark sein. Waffen. Lärm. Ich möchte – möchte? –, ich will mich hier nicht verlieren? Aber was sonst?

Am frühen Morgen eine WhatsApp, in der dir der liebste Mensch schreibt: „Der erste Schnee!“ – und du ziehst die Vorhänge zurück, und da sind die drei Wörter wirklichgeworden: der erste Schnee – und das Ausrufezeichen ebenso, wirklichgeworden: der erste Schnee! Um ihre Schlaftanne herum schwirren aufgeregt die beiden Elstern; das Weibchen ist weißer als das Männchen, aber so weiß wie der Schnee ist keiner von beiden. Hin und her, auf und nieder durch die beschneiten Äste flattern sie. Ist das kein ausgelassenenes Spielen? The sound of the birds. The birds of Flims. Yeah I asked around but nobody knows the names of ’em. Of the birds. The birds of Flims. (8.11.)

Jetzt hat die Welt, jetzt haben sie, haben wir, hast du den Salat. Den Trump-Salat. Welches Dressing? Demagogisch, bitte. Lasst es euch schmecken. Ich wachte auf gegen 3.40 Uhr und las, Florida gehe verloren, träumte dann vier Stunden lang von einem Erdrutschsieg des Trump und wachte auf und fand den Albtraum wahrgeworden. Die Leute in Ohio, Pennsylvania und Kentucky haben sich für die Unterhaltsamkeit der brachialen Dekadenz entschieden. Ihr gutes Recht. Schämen sollen sie sich trotzdem. Wohlan, Lüge! Ich bin zuversichtlich – wie stets, ihr hellgeschminkten Schwarzseher. Dieser vermeintliche Triumph der Reaktion ist der erste Tag ihres Niedergangs. Nero wird aus Rom verjagt werden. Aber zum Teufel scheren sollen sich vor allem, die diesen Ausverkauf demokratischer Prinzipien ermöglichten und herbeiriefen. (9. November 2016)

Krimiwerbung: „Spannung bis zum Herzstillstand!“

Krimiwerbung (erfunden): „Langeweile bis zum Herzstillstand!“

Warum der Schnee im frühen November so schön ist, die liebe Frau des Freundes sagt: „Es ist so hell, so licht dadurch.“ Und der Freund lacht, weil er im Schnee nicht mehr im Garten sitzen kann, um zu schreiben. Und ich lache, weil ich den ganzen Tag lang immer wieder dachte: Die Blätter sind noch da, und jetzt wird es weiß.

Eingeschlummert in der Bahn, die dich heimbringt in die Stadt, umgeben von konsterniert in die Dämmerung blickenden Gesichtern. Hör ihnen zu, hör zu, was sie erzählen! (Altona, 9.11.)

„Ich werde von mir selbst nicht mehr in mir gefunden.“ Andreas Gryphius

Wer heute ovid verse liest ist meist verblüfft

Die Dinge, wie sie waren, bringt nichts zurück, so ist es; alles, was das Gegenteil behauptet oder verheißt – Lüge, Trost, Hoffnung, Trug. Die Erinnerung ein unvergänglicher Schein. (Brest, 21.10.)

Respectez les hommes jaunes!

Bei Mons drei Frachtkähne im morgendlichen Nebeldunst, und über den Äckern brausen große Starenschwärme auf.

Der Strand von Trégana: Wohin hat es alle die Toten getrieben? Warum ist keiner, der am Leben blieb, hier geblieben?

Wer heute ovid verse liest ist meist verblüfft

Nachts mit dem Möbelwagen quer durch Paris, die Seine entlang, vorbei an La Défense, an Chaville, an Versailles, an der Porte de Saint-Cloud. Ich sprach von den neun Millionen mit nur Einem, und der lachte und war die Freundlichkeit in Person. (Paris Auteuil, 22.10.)

Was weißt du schon von den Fernfahrern, den Arbeitern? Nur, dass sie wie die Spinnen oft kunstvoll ihr Leben weben und verweben. Ausbruchsversuche? So gut wie keine. Das Glück scheint im Erfüllen zu liegen – dem Erreichen, dem Erlangen wovon? Erinnere dich: an den jungen Supermarktkassierer, der in jeder Pausenminute in einer Biografie Georges Bizets las.

„Besser, die Koffer packen. Ende.“ Pessoa

Wer heute ovid verse liest ist meist verblüfft

Der Fernfahrer tanzt mit elegantem Hüftschwung durch das Drehkreuz, um das Entgelt für den Gang zum Stillen Ort zu sparen. Ihm nach! – nicht um der paar Kröten willen, sondern wegen der schönen Bewegung. (Aachen, 23.10.)

Wer heute ovid verse liest ist meist verblüfft

Wenn ich die alten Lautsprecherboxen zurechtrücke und ihnen den neuen Platz einräume, warum denke ich sogleich zurück … an den einen, somit unverwechselbaren Nachmittag vor über 30 Jahren im Sachsenwald, als ich sie einem Schulkameraden abkaufte? Das Licht, die Bäume, ihr dunkles Grün. Sein zufriedenes Gesicht, seine langen blonden Locken. Das Gewicht der schwarzen Kästen in den Armen, als ich zur S-Bahn ging und heimfuhr. Die ganze Musik, die ich hörte seither! Musik der Erinnerungen, innere Musik: der Möglichkeiten zu ganz neuer. (2.11.)

Im Dunkeln wirbeln zwei Hunde hin und her und anscheinend umeinander herum: Den hellen siehst du, der dunkle kann auch Schatten sein.

Der Erste, der mich in der neuen Bleibe begrüßt: eine Amsel. (Barmbek, 16.10.)

Wenn Reformation heißt, vermeintlich Wahres und scheinbar Wirkliches zu hinterfragen, ist Poesie die beständige Reformation.

Jeder Strauch und jeder Busch war freundlich.

Zwischen den Mietblocks der überwucherte frühere Rasen, aus dem die Wäschestangen meiner Kindheit ragen. Seit Jahren ist dort niemand mehr gegangen, hat dort keine Wäsche gehangen außer der schwarzen der Krähen.

Heute vor 29 Jahren: Ich fuhr mit dem Bus hinaus nach Othmarschen und kaufte mir eine schwarze zuschanden gefahrene Giulietta: „der Satan“, Baujahr ’78.

Kurz hinter der belgischen Grenze steht in einem grasbewachsenen Tal zwischen Bahndämmen ein ganzer Güterzug und verrostet und verrottet im Regen. (18.10., bei Walhorn)

In der Dunkelheit die Seine-Mündung. Und das tausendfache Licht von Le Havre!

Rote, gelbe, vielfach grüne verwilderte Hecken: Die Normandie verblüfft. Bei St. Lô ist sie weit wie die Erinnerung – die mir nicht meine zu sein scheint.

Zwei Stunden später bist du nach 34 Jahren zum ersten Mal wieder in Caen. Mit 17 nachts am Strand, und das Licht im Dunst. Und der Wind kam über den Atlantik. Und der Wind kommt über den Atlantik.

In den Kellerräumen das ausgeräumte Leben, die Leere, die Spuren an den Tapeten von namenlosen unbekannten Augenblicken. Die Dinge, die wir weggeben, wegnehmen und wegwerfen, bleiben in der Erinnerung. Sie sind widerständig: Sie sind, was sie sind: gegenständig! (Plouzané, 19.10.)

Verzweifelt nicht jede Frage an ihrer Antwort?

„Der Baum steht vor dem Wohnzimmerfenster. Ich frage ihn jeden Morgen: ,Irgendwas Neues heute?’ Die Antwort kommt auf der Stelle, hunderte Blätter geben sie: ,Alles.’” Christian Bobin

Und noch einmal Bobin: „La lumière du jour n’est pas la vraie lumière.” — „Il y a des îles de lumière dans le plein jour. Des îles pures, fraîches, silencieuses. Immédiates.” – „L’amour seul sait les trouver.“

Die Frau fährt mit dem „SUV“ von der Größe eines Räumpanzers von Laterne zu Laterne und klebt an eine jede ein selbstgestaltetes Suchplakat: Wo bist du? Darunter ein Foto, die Größe, die Farbe, der Name, die Besonderheiten. Ich bleibe vor einer Laterne stehen und erkenne das Gesicht nicht wieder, aber ich sehe den Kummer darin. (Sasel, 10.10.)

Im Fernsehen psalmodiert der Psychologe von der Psyche, und die Psychotherapeutin, seine Tochter, seine Frau, bekennt, so habe sie das Problem noch nie betrachtet, er sei ein Meister, sie habe noch einen weiten Weg vor sich, bis sie die Psyche verstehen werde.

„Frankentrump“ nennt die französische Presse den us-amerikanischen Präsidentschaftskandidaten der sogenannten Republikaner – und benennt damit das Problem Donald Trump. Keiner will für dessen Demagogie und Sexismus, dessen Dumpfheit und Brandstiftung verantwortlich sein. Ein Monster, aus der Art geschlagen, muss dieser Milliardär sein. Nur ein Mensch, mit Abgründen und Fehlern, darf Donald Trump nicht sein. „Wenn ich nur an Bücher denke, muss ich gähnen“, sagt Trump. Er ist ein ungebildeter Idiot, ein Lügner, ein Widerling, ein Frauen- und Kinderverächter, ein hässlicher Drecksack und Hanswurst, und das ist nur der Beginn. Doch er ist kein Ungeheuer, dem man mit Argumenten und Kritik nicht beikommen kann. Er ist ein Mensch, und ich fürchte, er ist das getreueste Inbild unserer so gottlosen wie lachhaften Zeit.

Sie schwimme jeden Tag durch einen Fluss aus Sirup, sagt die Klavierlehrerin.

„He worships God with ashes.“ This Mortal Coil

Nobelpreis für Bob Dylan. „It’s not dark yet, but it’s gettin’ there.“ Ein gutes Zeichen in dieser furchtbar klanglosen Leere.

„Of course I’m a horse.“ Sioux-Wort, vielleicht.

Die Dinge, die sich nicht sagen lassen, gehen in der Stille der Überlegung durch die Wehmut hindurch und verwandeln sich. Das Allermeiste wird zu etwas Regenähnlichem, einem Niederschlag, der im Gemüt versickert. Aber es gibt auch Erkenntnisse, die bleiben, wie Erinnerungen an immense Wolkenschatten an einem lichten Tag. Der Zufall treibt dir Schatten zu, und mit einem Mal kannst du sagen, wie du weiterleben möchtest, weil vom Alten nur ein Unglück übrigblieb. Cheever sagt es in zwei Zeilen: „Am Morgen sage ich also: Springt, mein Herz, mein Geist. Es geht nicht anders. Sie müssen springen.“ (Grindel, 3.10.)

Zu jedem Zeitpunkt stehst du am Ende des Lebens und fängst, wenn möglich, neu an.

Ich ging, das Telefon am Ohr, durch die Siedlung, in den Wald hinein, wir sprachen, über das Glück, über die Gewalt, über das Unglück, über Auswege, und auf einmal lag vor mir, wie ich so lauschend und sprechend ging, ein grünes Tal, Bäume rings an seinen Rändern, die auf mich zukamen, und Leute, entfernte, Spaziergänger, man hörte jedes Wort, ohne es verstehen zu müssen. Wir sprachen über die Liebe, über das Ende der Liebe, über die Kinder, über die Klugheit der Kinder. Das grüne Tal. Die Bäume. Die Weite. Die Enge. Das Ende, die Öffnung der Enge. (6.10.)

Kreuzworträtsellöser im Bus. „Weltmacht mit drei Buchstaben?“ — „Ich.“

Denk an Torberg. Friedrich Torberg und seinen „Schüler Gerber“, den du in der Oberstufe last. Benda hieß der gegen seinen selbstherrlichen Lehrer „Gott Kupfer“ aufbegehrende Schüler, nach dem du dein einziges Pseudonym benannt hast. Vergiss den Namen nicht! … Keiner kennt ihn mehr, nur du. Vergiss Friedrich Torberg nicht!

Morgen ein Kellertag.

Der Staub auf den Gegenständen – der Staub auf den Geschehnissen. Deshalb wird allenthalben Staub gewischt, vorgeblich.

„Ich werde so störrisch sein wie ein Rotkehlchen – in einem Käfig werde ich nicht singen.“ John Keats

Den besten Empfang hatte ich unter der roten Krone der Zierkirsche.

Mein Tagebuch – jetzt ausklappbar für eine erweiterte Pumpen-Dokumentation!

„Behandle einen Gast zwei Tage lang als Gast, aber am dritten gib ihm eine Hacke“, lautet eine Swahili-Weisheit, und ich las statt „Hacke“ „Hecke“. Beim Freund zu Gast. Und wirklich, es war, als schenkte er mir eine prächtige Hecke. (Sülldorf, 28.9.)

Im Nachtwind das Rauschen der Bäume, und in einem Vorgarten fünf Wicken, groß wie du, schwankend wie du.

„Darlegen, was ich weiß, ebenso wie was ich zu wissen hoffe. Meinen Alkoholdurst beschreiben, wie er um neun in der Frühe beginnt und manchmal unbeherrschbar wird um halb zwölf. Die Schmach beschreiben, in der Speisekammer einen Drink abzuzweigen – und den aufreibenden Geschmack des Gin; über das Gewicht aus Entmutigung und Verzweiflung schreiben; über ein namenloses Grauen schreiben; über die zermürbenden Krämpfe haltloser Angst schreiben; über den Horror des Scheiterns schreiben. Das Ringen, eine Schärfe an Gefühl zurückzuerlangen, des Gefühls, dass ein Rand dessen, was Hoffnung versprach, weggebrochen ist.“ John Cheever

Ein Lieferwagen fährt langsam vorbei, in dem sechs – 6 – Arbeiter sitzen und rauchen, unrasiert, lachend, guter Dinge aufgrund der Schönheit des Lebens auf dieser Welt. Ihre Firma: FREIRÄUME UND GÄRTEN (Barmbek, 30.9.)

Was ist das Wissen der Welt schon? Das Kind ist fest überzeugt: Meerrettich ist der Name eines Fischs.

Die Alte, die in den Bus steigt mit einem umfunktionierten Einkaufswagen, an dem lauter Tüten, Beutel, und Taschen befestigt sind, voller was? Ein Rad ihres Gefährts ist kaputt, aber auch mit dreien tut es noch seinen Dienst. Die Alte, die am Morgen freundlich lächelnd im Bahnhof das Stadtmagazin anbietet – und acht Stunden später unverändert dort steht. Die Alte, die vor dem Supermarkt vorbeigeht und laut flucht auf die Kinder, die mit ihren Rollern vorüberbrettern – und der junge Kerl, der sie zurechtweist: „Asozial sind Sie! Asozial!“ Die Alte, an der du vorbeirennst mit Deinem ganzen Gepäck und die dir nachruft: „Gibt’s das? Gibt’s das?“ (Ohlsdorf, Winterhude, Sülldorf, September 2016)

Eine brennende Lampe im Fenster heißt immer, immer: „Rette mich!“

Sie brach die Brücken ab, die noch Bestand hatten, nur um dadurch behaupten zu können, am anderen Ufer zurückgelassen, verlassen worden zu sein.

Erinnere dich an die Schuhe in Genf: Zwischen zwei Frauen entbrennt vor einem Stundenhotel im Bahnhofsviertel ein lautstarker Streit. Die eine bewirft die andere mit ihren Schuhen, und die Beworfene wirft die Schuhe nicht zurück, sondern auf die Straße, dorthin, wo sie plattgefahren werden sollen. Der Mann, ein Brustkorb mit Beinen, der Anlass für die Querele, tritt mit großer Geste auf die Fahrbahn und sammelt die Schuhe der Liebsten (welcher?) vom warmen Asphalt.

Das Kind schreibt eine Klassenarbeit über Platon, Aristoteles, Sokrates und die vier kantischen Fragen. Die drei ersten, sagt das Kind, seien berechtigt; die vierte allerdings redundant. (21.9.)

Ein Leben lang hast du sie am Leib und warten sie darauf, dich zu zerreißen – deine Furien.

Schütte den Rotwein in die Sträucher.

„Gestorben am Tod“, sagt das Kind.

Wer heute ovid verse liest ist meist verblüfft
Das „Selbstbildnis (mit grünem Hut)“ von Felix Nussbaum – du siehst das Gesicht und du siehst den Hut über die Jahre, in denen seine Gemälde entstehen, wie sich beide zugleich verändern und doch dieselben bleiben; bis zum Schluss. Noch im Angesicht der Verfolger und Deportierer malt er sein Gesicht, den Blick, sich selber zugewandt, malt die grüne Kopfbedeckung fahler, immer fahler. Malt Bäume, einzeln, immer kahler. Nie schwindet die Hoffnung – der Glaube – ganz aus seinen Bildern. Noch „Sieg des Todes“ von 1943 wird konterkariert durch die Leben und seiner vergangenen Freuden zugewandte Weise von Nussbaums Malen. Er verschwand nicht einfach in Auschwitz. Die bis zum Ende aufrecht erhaltene Schönheit seiner Gemälde zeigt die Vernichtung und ihre gewaltige Absurdität. (Osnabrück, 24.9.)

Sehr sonderbar, die Vertrautheit von Felix Nussbaums Gemälde „Selbstbildnis mit Judenpass“ – das mich seit Jahrzehnten begleitet, wie ein wiederkehrender Traum. Da spricht die Sprache meiner Vorstellung: Mauer, Gesicht, Pass, Identität, zerstörte Natur, doch ebenso: Trost des Blicks, Suche nach Trost – Flug der Vögel.

Sooft ich an dem Telefonladen vorbeigehe, -fahre, sooft ich davor stehe oder warte, immer telefoniert darin der Angestellte.

Im St. Petrus-Dom tief bewegt von den Kalvarienreliefs im Kreuzgang, Jesus von Nazareth, wie er das Kreuz aufgeladen bekommt, wie er es schultert, wie er stürzt, es weiterschleppt, stürzt, es von Neuem aufnimmt, stürzt und auf der Erde kauert, verhöhnt, beweint, verlacht, atemlos, am Ende. Wie er es weiterträgt. Die Reliefs erlauben den Blick in die Gesichter aller Beteiligten. Ich ging nochmals zurück, um die Chronologie zu verstehen. Die Körperlichkeit. Das Erdulden. Das Wissen um die Ungerechtigkeit. Die augenfällige Gleichzeitigkeit. (Osnabrück, 16.9.)

Im stillen Dom ein Pulk Flüchtlinge, die von zwei Damen erklärt bekommen, woran die Deutschen glauben. Einer fragt, was der Löwe bedeute, und erhält zur Antwort, dass der Löwe für Kraft stehe, die Kraft des Glaubens. Im überfüllten Zug heim sitzt auf dem reservierten Platz neben mir ein junger Syrer, der bald vertrieben wird von einer Gruppe Kegelbrüder. Er kauert sich ins Gepäckfach zwischen Sitzen und Tür, übermüdet und wortlos. Ich lese Cheever: „Bevor es hell wird, wache ich auf in einem Rausch der Heiterkeit. Ich glaube, dass ich es alles zurückbekommen werde: die grünen Wogen des Nordatlantik, den Witz und die Hochstimmungen eines geilen Lebens, den Blauen-Himmel-Mut, einen natürlichen Zugriff auf die Dinge. Ich glaube, dass ich es alles zurückbekommen werde. Ich träume einen angenehmen Traum mit angenehmen und unangenehmen Gestalten. Der Allerwiderwärtigste lässt die Hosen runter, aber, guter Gott, warum sollte ich mir darüber noch länger den Kopf zerbrechen? Ich treffe alte Freunde aus meiner Kindheit. Mit dem Guten an der Liebe ist es ähnlich wie mit langen Stoffen, ruhigen, unaufgeregten, einem feinen, welken Schatten. Und ich werde auswandern aus diesem schrecklichen Land, in dem ich schwitzend im Bett liege, darauf warte, dass der Ölbrenner dem Haus mit Feuer den Rachen stopft, darauf warte, dass meine Schulden mich zugrunde richten, während mir die Leiste schmerzt wie eine Wunde. Ich werde es alles zurückbekommen.“

Erinnere dich: Wie du Ausschau hieltest nach den Güterwaggons, auf denen ihr Name stand, bloß um … ja, was? Aber es gibt keine Verbindung zwischen den Gegenständen und den Empfindungen, es sei denn im Wünschen, im Wunsch, es möge diese Verbindung geben.

Auf dem Spielplatz, der umgeben ist von lauter eingesperrten Tieren, sagt die Frau zu ihrer Tochter, während die sich die Turnschuhe bindet, „damit es endlich losgehen kann“ (was denn?): „Würdest du bitte nicht auch daraus jetzt so einen Spielfilm machen?“ (Harburg, 17.9.)

Unter den Tieren fiel mir besonders der Luchs auf, der war, wie ich gern wäre, wenn auch nicht eingesperrt: Der Luchs schlief auf einer hölzernen Plattform in einer Baumkrone. Aber auch das Schwirren der Luft in dem Fledermaushaus war ergreifend, die Fledermäuse, die mich für einen nennbaren Widerstand zu halten schienen. Und in einem Sonnenfleck, der zwischen zwei Büschen auf einem Stein lag, döste eine schwarzweiße Schlange. The sounds of the birds! The sounds of the birds of Flims.

„Mein Vater hatte so viele Pseudonyme, dass ich ihn nirgends finden kann.“ Jeanine Osborne

„Eine dunkelgrüne, grasgrüne Heuschrecke kroch Linda über die Hand“ – wundervoll lebendige Prosa: Leta Semadenis „Tamangur“.

Mitte September: Im Rhein schwimmen die Leute, und in den Parks der Stadt sitzen sie, müde, matt, verlangsamt. Immer ist die Witterung auch Ausdrucksform. Immer sucht die Natur das Gespräch. (Basel, 11.9.)

Die Vorsitzende der AfD (Ausgrenzung ferlangt Demütigung) fordert eine Rückbesinnung auf die positiven Aspekte des Völkischen. Die völkische Frauke (DvF) beobachtet das Volk und sieht das Völkische als ihm zugehöriges Attribut: „Das Volk“ sei „völkisch“. Demnach muss „der Hund“ „hündisch“ sein und „die Dame“ „dämlich“ und „der Herr“ „herrlich“. Die rechtsradikale Menschenverachtung gründete stets auf Vertumbung und Dumpfheit – und hat übrigens zu keiner Zeit, schon vor zweitausend Jahren nicht, zu irgendetwas Nennenswertem geführt außer zu Hass, Gewalt und Zerstörung. Die Sprache bewahrt das Gedächtnis auch an die Verheerungen. Der braune Mob, nie hat er gelernt, die der Sprache innewohnende Geschichtlichkeit, ihre Jahresringe, als Argument der Einzelnen zu akzeptieren oder gar wertzuschätzen. Glaub du unbeirrbar an die Verantwortung der Wörter und Worte!

Wer heute ovid verse liest ist meist verblüfft
Wer heute ovid verse liest ist meist verblüfft

I m K u n s t mus eu m Ba sel se he ic h noc h ei nma l die Schrift / muster / bilder von Cy Tw omb ly, die mir seit sieben Monaten durchs Gemüt gehen, das Weiß, Hellblau, Blau der Schraffuren, Linien, grasartigen Strukturen, die Skizzenartigkeit, das Flüchtige im Bleibenden, den Malerei gewordenen Moment, Bewegung und Bewegtheit, Regung und Erregtheit: „Nini’s Painting“. – „I have my pace and way of living, and I’m not looking for something.“ (C.T.)

Als „Atmen beraubend“ und „lichtvoll“ bezeichnet Pierre-Laurent Aimard seinen Mentor Pierre Boulez in einem morgendlichen Interview.

Bild: Cy Twombly, „Returning from Tonnicoda“ (1973); Foto: Cy Twombly in Rom, 1972

Auf einer schmalen Landzunge im Sund jagt ein großer Hund übers sonnenbeschienene Gras, und Augenblicke später flattert ein Schwarm Wildgänse auf und fliegt über das blaue Wasser davon. Ein Glücksmoment, nicht nur für den Hund.

Im Wartezimmer des Stadtteilarztes – das Krankenhaus im Zentrum hielt die Beschwerden für nicht relevant genug –: Kinder und Familien und Freundespaare und trist durch den Raum blickende Männer und Frauen aller erdenklichen Sprachen. Vibrierende Lebendigkeit, Erleichterungen, Tröstungen, Verzweiflungen. Das Profil einer alten Spanierin, bewundert von ihrer jungen Nichte oder was immer. Die beklommene Schönheit der Araberin mit drei kleinen Kindern und pragmatisch organisiertem Gatten. Das Bürschchen aus dem Kosovo. Zwei französische Lesben. Dazwischen sitzt du mit deinen Tagebüchern von Cheever, ein Buchleser im Trenchcoat. The poetry of earth is never dead. Und keiner muss hinausgetragen werden. Und jedem, der sich verabschiedet, gilt die Bewunderung aller, die ebenso zu überleben versuchen und festhalten an der Freundlichkeit. (Farmsen, 3.9.)

Café de Passage. Das Übergangscafé.

Geh so nah an die Geschehnisse wie möglich. Beobachte die vor sich gehenden Möglichkeiten: die Wörter, die Berührungen. Du bist der Poesiekorrespondent. (8.9.)

Der alte, schlohweiße Nachbar sieht aus wie ein weiser Grass, der lebenskluge Bruder von Günter Grass. Er schiebt sein altes Sportrad durch die Sonne, würdevoller Rollator.

Du musst jetzt in eine andere Pracht gehen – und ihr Teil sein. (9.9.)

Der psychoanalytische Blick sei ein Turmbau wie der zu Babel, sagt Peter Handke 1989, nur in den Menschen hinein. Auch dieser Turm werde abgebrochen werden müssen. Den Abriss, erleben wir ihn nicht eben jetzt?

Die Kinder im Nintendo-Lazarett.

Handkes Wesen, ist es eines der Entlarvung, der investigativen Selbst-ent-Täuschung? Mutwilliges Wundsein; Dahinschrammen am für wirklich Gehaltenen; immer wieder auf Abwegen Nazarener-Allüren. Suche nach der Glücksdauer, nicht augenblicklich, sondern im Augenblick.

„One must act with a free heart – there can be nothing covert – and seek the best ways of expressing ourselves within the conditions under which we live. And waking I think how narrow and anxious my life is. Where are the mountains and green fields, the broad landscapes?“ John Cheever – wie leicht dahingesagt, und doch benennt er hier das vielleicht Schwierigste von allem: „seek the best ways of expressing ourselves WITHIN the conditions under which we live.“

Fehmarn: in den leeren, vom Wind gepeitschten Dünen die wilden Apfelbäume.

Wie so oft schon, wenn jemand gestorben ist, dem dein Herz zugetan war, siehst du ihn oder sie in den Wochen nach dem Ableben wieder, nicht am Leben, aber auch kein Gespenst, unbekannt neben dir auf der Welt. So auch wieder heute mitten auf der Insel zwischen den Stoppelfeldern, unter den südwärts ziehenden Vögeln. Für Karl-Heinz Ströhle

Manche spüren den Regen, andere werden einfach nass.

„You gave me pale shelter. You don’t give me love, you give me cold hands.“ Tears for fears

Es ist ganz einfach anders.

In der Mitte deines Lebens, ist da nicht die Leere? Nicht an den Rändern, den Wochenenden, und nicht an der Oberfläche, da, wo du glaubst, tätig zu sein – in der Tiefe, in der Mitte, im Kern, ist da nicht die Leere, die Abwesenheit?

Schon vor Jahren bekannte sich der US-Schmunzelpräsident zur Richtigkeit (nicht Rechtmäßigkeit) der Todesstrafe in (vermeintlich) angemessenen Fällen. Zeit, in der Versenkung zu verschwinden, Barack Obama, Inbegriff der Enttäuschung.

Die wilden Wolken dieses Sommers! Der ganze Regen! Die vielen Toten! Die Gespenstigkeit des Abwartens! Die Zeichen! Die Wunder! Wir leben! Glückwunsch!

Tag für Tag mehr ähnelst du einer Echse.

„Haben wir einen Feuerlöscher?“, fragt das Kind.

Still und sehr lange blickt das Kind aus dem Fenster, bevor es fragt, ob ich weiß, dass Marienkäfer rote Beine haben.

Wieder auf Fehmarn. Der Sommer ist weit fortgeschritten, ein blasses Gold auf den Feldern, die fast alle bereits abgeerntet sind, Stoppelfelder: Leichter, warmer Wind. Der Garten ist bugförmig, eine Stockrose, ein alter, verwilderter Birnbaum, Efeu an der Hauswand. Nebenan wohnt eine junge Großmutter mit ihren Enkeln, drei Jungs von 10 bis 15 Jahren, und ihrem Münsterländer Lupo. Kommst du deshalb immer wieder hierher auf die Insel deiner Kindheit und Jugend, um der vermeintlich wiederzufindenden Erinnerungen willen? Oder ist deine Liebe zu Fehmarn, viel sinnlicher, dem Wind, den Farben, der Stille, der Zurückhaltung der Leute geschuldet? Das Rauschen der Bäume. Die Schwalben. Ihr leises Gezwitscher. (Bojendorf, 27.8.)

What a wild night! Mit einem Mal brach über der Insel ein von Osten gekommenes Gewitter los, mit tiefstem Donnern, grellen Blitzen über dem Meer, die überall auch ins Rosige, Bläuliche und sogar Grünliche verliefen. Wildes Rauschen durch die sturmgepeitschten Bäume. Die Nachtvögel kreuzten umher, wie ich es zuletzt am Rand des Regenwaldes von Cairns in Queensland erlebte, nachts, unter den um sich schlagenden Palmen. Am Morgen ist heute der ganze Buggarten zerwühlt, und die Sonne braucht Stunden, um die Herbstkühle wieder zu vertreiben.