Welches Prinzip gilt für die Warenverkehrsfreiheit?

[7]Marcus, J. S. u. a., The impact of COVID-19 on the Internal Market (Die Auswirkungen der Corona-Pandemie auf den Binnenmarkt), Veröffentlichung für den Ausschuss für Binnenmarkt und Verbraucherschutz, Fachabteilung Wirtschaft, Wissenschaft und Lebensqualität, Europäisches Parlament, Luxemburg 2021.

Der Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV oder AEU-Vertrag) stellt neben dem Vertrag über die Europäische Union (EUV oder EU-Vertrag) die primärrechtliche Grundlage des politischen Systems der EU dar. Die im dritten Teil des AEU-Vertrages beschriebenen Grundfreiheiten gelten als die tragenden Säulen zur Verwirklichung des Binnenmarktziels. Der Binnenmarkt soll einen Raum darstellen, in welchem Waren, Güter, Dienstleistungen und Kapital frei zirkulieren können und Handelshemmnisse soweit es geht beseitigt werden.1 Dabei enthalten alle Grundfreiheiten das Verbot der Diskriminierung ausländischer Wirtschaftsgüter gegenüber solchen aus dem Inland. Kein Mitgliedstaat darf somit seine nationalen Regelungen derart ausgestalten, dass Wirtschaftsgüter aus einem anderen Mitgliedstaat diskriminiert werden.2 An diese Grundregel knüpft auch die Warenverkehrsfreiheit. Sie gehört neben der Personenfreizügigkeit, der Dienstleistungsfreiheit und der Freiheit zum freien Kapital- und Zahlungsverkehr zu den vier “klassischen“ Grundfreiheiten der EU, kann jedoch gewissermaßen als das Herzstück der Grundfreiheiten und des europäischen Wirtschaftsrechts verstanden werden. Das Gleichheitsrecht fragt danach, ob ein Hoheitsträger zwei Sachverhalte, den inländischen und den grenzüberschreitenden, unterschiedlich behandelt.3 Die Warenverkehrsfreiheit ist in den Art. 28 - 37 AEUV nominiert und gilt im Sinne des Art. 28 Abs. 2 AEUV für alle Waren, die aus den Mitgliedstaaten stammen sowie für solche aus dritten Ländern, die sich bereits in den Mitgliedstaaten im freien Verkehr befinden. Sie regelt zunächst das Verbot zwischen den Mitgliedstaaten, Ein- und Ausfuhrzölle und Abgaben gleicher Wirkung zu erheben (Art. 30 AEUV) und stellt insbesondere in den Art. 34 und 35 AEUV klar, dass mengenmäßige Ein- und Ausfuhrbeschränkungen sowie alle Maßnahmen gleicher Wirkung zwischen den Mitgliedstaaten verboten sind. Besonderer Bedeutung kommt hierbei vor allem der Formulierung „Maßnahmen gleicher Wirkung“ hinzu, mit der sich der EuGH zunächst 1974 in der sogenannten “Dassonville-Entscheidung“ auseinandersetzen musste.

2. Die “Dassonville-Formel“

In diesem berühmten Urteil4 beschäftigte sich der EuGH mit der Beschränkung der Warenverkehrsfreiheit aus Art. 34 AEUV und trug damit maßgeblich zur Liberalisierung des innereuropäischen Handels bei. Hintergrund des Urteils ist, dass sich der EuGH zuvor und infolge der Entwicklung des Art. 34 AEUV zunehmend mit Fällen befassen musste, in denen nationale Regelungen beanstandet wurden, die zwar die wirtschaftliche Freiheit beschränkten und somit zu einer Reduktion des Absatzvolumens führten, aber eben den Marktzugang nicht behinderten.5 Statt mengenmäßiger Beschränkungen handelte es sich dabei häufig um Maßnahmen, die zwar selbst keine Quoten darstellten, jedoch die gleiche Wirkung entfalteten und somit ebenfalls den heimischen Markt eines Mitgliedsstaates schützten.6

Im Fall selbst geht es um ein Strafverfahren gegen zwei belgische Händler, welche nach den belgischen Rechtsvorschriften eine amtliche Bescheinigung für einen in Frankreich gekauften, jedoch in Schottland produzierten Scotch Whiskey für die Einfuhr nach Belgien benötigt hätten. Die Händler, die für die Großhandelsfirma Dassonville arbeiteten, konnten zwar eine französische Urkunde vorweisen, jedoch musste nach der nationalen Vorschrift eine Bescheinigung des Herkunftslandes für das Produkt bei der Zollbehörde vorgelegt werden, welche die Händler nicht besaßen. Daraufhin legte das belgische Gericht im Vorabentscheidungsverfahren dem EuGH die Frage vor, ob es eine “Maßnahme mit gleicher Wirkung“ wie eine mengenmäßige Beschränkung im Sinne von Art. 34 AEUV darstellt, wenn eine Bestimmung des nationalen Rechts die Einfuhr einer Ware für den Fall untersagt, dass für diese Ware keine vom Exportland ausgestellte amtliche Urkunde vorliegt. In der Entscheidung war der EuGH nun also bemüht, den Begriff der „Maßnahmen gleicher Wirkung“ aus Art. 34 und 35 EUV genauer zu beleuchten, woraufhin sich der Leitsatz des Urteils im Volksmund zur “Dassonville-Formel“ entwickelte. Darin heißt es:

„Jede Handelsregelung der Mitgliedstaaten, die geeignet ist, den gemeinschaftlichen Handelsverkehr mittelbar oder unmittelbar, tatsächlich oder potentiell zu behindern, ist als Maßnahme gleicher Wirkung wie eine mengenmäßige Beschränkung anzusehen.“7

Der Gerichtshof erachtete eine solche Bescheinigung als Bedingung für den Import einer ausländischen Ware als unionsrechtswidrig und stellte einen Verstoß gegen die Warenverkehrsfreiheit fest. Mithin hat der EuGH hat drei Kriterien für die Charakterisierung einer innerstaatlichen Maßnahme als Maßnahme gleicher Wirkung herausgearbeitet: Zunächst muss keine tatsächliche Behinderung des Handels vorliegen, es reicht vielmehr aus, dass die Maßnahme sich grundsätzlich dazu eignet, den Handel zu behindern. Zweitens kann die potentielle Möglichkeit der Handelsbeeinträchtigung unabhängig von dem Zweck der Maßnahme zu bejahen sein. Es ist mithin unerheblich, ob die Maßnahme zu dem Zweck vorgenommen wurde, den Handel zu beeinträchtigen, oder nicht. Zuletzt muss es sich um Maßnahmen handeln, die in adäquater Weise eine Handelsbeschränkung verursacht haben.8

Da es sich bei dieser Formel jedoch weder um eine umfassende noch um eine präzise Begriffsbestimmung, sondern vielmehr um eine weit gefasste Definition handelt, drohte jede denkbare einfuhrbehindernde Wirkung einer staatlichen Maßnahme zu einem Verstoß gegen Art. 34 AEUV, schließlich zu einer Beschränkung des mitgliedstaatlichen Handlungsspielraumes und damit möglicherweise zu einer Rechtsannäherung auf einem äußerst niedrigen Niveau zu führen.9 Auch wenn der EuGH - wie sich in den folgenden Jahren zeigen sollte - zunächst über die Ziele des Abbaus schützender Maßnahmen und der gleichzeitigen Liberalisierung des Wirtschaftsverkehrs hinausschoss, hatte man in rechtspolitischer Hinsicht dennoch einen geschickten Schachzug eingeleitet, da der EuGH die Richtung für den über Art. 34 AEUV angestrebten Abbau von Handelshemmnissen innerhalb des gemeinsamen Marktes - wenn auch mit überschießender Wirkung - unumkehrbar vorgegeben hatte.10 Man konnte zudem die weitere Entwicklung abwarten und im Bedarfsfall war ebenso die Möglichkeit eröffnet, den Anwendungsbereich des Art. 34

EUV nachträglich zu beschneiden. Damit bildet die “Dassonville-Formel“ den geschichtlichen Ausgangspunkt für die Rechtsprechung der Warenverkehrsfreiheit, die in der Folge immer weiterentwickelt und so bis zur heutigen Rechtsprechung strukturiert wurde.

3. Die Entscheidung “Cassis-de-Dijon“

Neben der “Dassonville-Entscheidung“ gehört auch das 1979 ergangene “Cassis-de-Dijon-Urteil“11 zu den grundlegenden Leitentscheidungen des EuGH zur Auslegung der europäischen Warenverkehrsfreiheit. Im Ausgangsfall wollte die REWE-Zentral AG den sogenannten “Cassis-Likör“ mit einem Alkoholgehalt von 15 - 20 Vol.-% aus Dijon, Frankreich, importieren. Die Bundesmonopolverwaltung für Branntwein forderte für Liköre jedoch einen “Mindestweingeistgehalt“12 von 32 Vol.-% und verbot der REWE-Zentral AG damit den Verkauf der Ware. Diese vertrat wiederum die Ansicht, dass in der Regelung eine Maßnahme gleicher Wirkung zur mengenmäßigen Einfuhrbeschränkung zu sehen sei und folglich mit der Warenverkehrsfreiheit aus Art. 34 AEUV unvereinbar ist.

Da das deutsche Branntweinmonopolgesetz nicht zwischen inländischen und eingeführten Erzeugnissen differenzierte und letztere daher keiner materiellen Diskriminierung unterlagen, hatte es der EuGH in diesem Fall erstmals mit einer unterschiedslos anwendbaren Handelsregelung zu tun. Dennoch bejahte der EuGH die handelsbeschränkende Wirkung einer solchen Regelung und setzte damit zunächst die Rechtsprechung des “Dassonville-Urteils“ fort, da es eine Handelsregelung, die unterschiedslos für ausländische und inländische Produkte gilt, als Maßnahme gleicher Wirkung eingestuft hatte. Handelshemmnisse, die sich aus den Unterschieden zwischen den autonomen Regelungen der Mitgliedsstaaten ergeben, „müssen hingenommen werden“, so der EuGH. Gleichzeitig beschränkte der Gerichtshof jedoch den Anwendungsbereich der Maßnahmen gleicher Wirkung für eben diese nationalen Regelungen und bestimmte, dass die Handelshemmnisse nur dann hinzunehmen sind, „soweit diese Bestimmungen notwendig sind, um zwingenden Erfordernissen gerecht zu werden“.13 Danach können nichtdiskriminierende Beschränkungen eines Mitgliedstaates auch gerechtfertigt sein, wenn diese zum Schutz zwingender Erfordernisse des Allgemeininteresses, bspw. des Verbraucherschutzes, erforderlich sind.

Das Urteil musste sich anschließend einiger Kritik aussetzen, da es den nationalen Gesetzgeber mit dem Dilemma konfrontierte, entweder die nationalen Regelungen für inländische Unternehmen aufrechtzuerhalten und dadurch die eigene Industrie zu diskriminieren (sogenannte “Inländerdiskriminierung“) oder die Regelungen und damit schließlich auch die höheren Qualitätsstandards zugunsten einer Anpassung auf dem niedrigsten Niveau aufzugeben.14 So entschied der EuGH in Anlehnung an des “Cassis-de-Dijon-Prinzip“ ebenso, dass das Verbot der Bundesrepublik Deutschland, ausländische Biere, die nicht nach den deutschen Regeln hergestellt werden, unter der Bezeichnung “Bier“ zu verkaufen, gegen die Warenverkehrsfreiheit verstößt, da die Beschränkung der Bezeichnung “Bier“ auf Erzeugnissen, die ausschließlich dem deutschen Reinheitsgebot entsprachen, nicht durch zwingende Erfordernisse (des Verbraucherschutzes) gerechtfertigt war.15

Seit dem “Cassis-de-Dijon-Urteil“ verfolgt die Kommission eine neue Strategie zur Beseitigung von Beschränkungen des freien Warenverkehrs, indem sie Art. 34 AEUV in verstärktem Umfang heranzieht und weniger auf eine Rechtsangleichung setzt.16 Dabei stützt sie sich auf die Aussage im

Urteil, nach der „jedes in einem Mitgliedsstaat rechtmäßig hergestellte und in den Verkehr gebrachte Erzeugnis grundsätzlich auf dem Markt der anderen Mitgliedsstaaten zuzulassen ist“, sofern dem nicht ausnahmsweise zwingende Erfordernisse im Sinne der “Cassis-de-Dijon-Rechtsprechung“ entgegenstehen. Von dieser Rechtsprechung ausgehend hat sich folglich das sogenannte “Prinzip der gegenseitigen Anerkennung“ entwickelt.17

4. Versuch der Eingrenzung - die “Keck-Entscheidung“

Auch die “Keck-Entscheidung“18 von 1993 gehört zu den fundamentalen Urteilen zur Rechtsprechung und Entwicklung der Warenverkehrsfreiheit und nimmt dabei zugleich eine besondere Stellung ein, da der EuGH den zuvor entwickelten Grundsätzen mit dem als “Keck-Formel“ bekannt gewordenen Verfahren ihre Absolutheit absprach. Dies war insofern notwendig, als dass das Merkmal der Maßnahmen gleicher Wirkung konturenlos zu werden drohte.19 Der Gerichtshof erkannte diese Notwendigkeit und gelangt in der ausdrücklich als Klarstellung und Abweichung von der bisherigen Rechtsprechung bezeichneten Entscheidung zu dem Schluss, dass die Wirtschaftsteilnehmer nicht jedwede Regelung wegen Verstoßes gegen die Warenverkehrsfreiheit beanstanden können, „die sich als Beschränkung ihrer geschäftlichen Freiheit auswirkt.“20

Ausgangspunkt des Streites ist der Verstoß zweier Betreiber eines französischen Supermarktzentrums (Bernard Keck und Daniel Mithouard) gegen ein Gesetz, welches den Verkauf von Waren unter dem Einkaufpreis verbot. Die Betreiber verteidigten sich mit dem Argument, dass das Verbot den Absatz importierter Waren erschwere und machten im nationalen Ausgangsverfahren die Unvereinbarkeit dieses französischen Verbotes mit dem Grundsatz des freien Warenverkehrs geltend. Das Gericht des Ausgangsverfahrens rief daher den EuGH an, um klären zu lassen, ob die europäischen Verträge dem Verbot des Verkaufs von Waren unter dem Einkaufspreis entgegenstehen.

Der EuGH kam in seinem Urteil zu dem Schluss, dass „entgegen der bisherigen Rechtsprechung die Anwendung nationaler Bestimmungen, die bestimmte Verkaufsmodalitäten beschränken oder verbieten, auf Erzeugnisse aus anderen Mitgliedstaaten nicht geeignet ist, den Handel zwischen den Mitgliedstaaten im Sinne des Urteils “Dassonville“ unmittelbar oder mittelbar, tatsächlich oder potentiell zu behindern, sofern diese Bestimmungen für alle betroffenen Wirtschaftsteilnehmer gelten, die ihre Tätigkeit im Inland ausüben, und sofern sie den Absatz der inländischen Erzeugnisse und der Erzeugnisse aus anderen Mitgliedstaaten rechtlich wie tatsächlich in der gleichen Weise berühren.“ Vereinfacht gesagt verneinte der EuGH einen Verstoß gegen die Warenverkehrsfreiheit, indem er das Weiterverkaufsverbot zum Verlustpreis als allgemeine Verkaufsmodalität - und nicht als Marktzugangshindernis - einstufte und somit aus dem Anwendungsbereich des Art. 34 AEUV ausklammerte.

Folglich hatte der EuGH mit seiner Entscheidung seine bis dahin in der “Dassonville-Entscheidung“ enthaltene, sehr weitreichende Definition einer Maßnahme gleicher Wirkung im Sinne des Art.

Was versteht man unter dem freien Warenverkehr?

Freier Warenverkehr ist die erste der sogenannten vier Grundfreiheiten, die im EU-Binnenmarkt gelten. Die Warenverkehrsfreiheit legt fest, dass EU-Mitgliedsstaaten keine Zölle auf Waren aus anderen EU-Ländern erheben dürfen. Auch Mengenbeschränkungen oder ähnlich wirkende Maßnahmen sind nicht erlaubt.

Was verbietet der freie Warenverkehr?

Die Warenverkehrsfreiheit bezweckt den Schutz des europäischen Binnenmarkts. Hierzu verbietet sie den Mitgliedstaaten bestimmte Verhaltensweisen, die den Handel mit Waren aus anderen Mitgliedstaaten benachteiligen, die also protektionistisch wirken.

Wer kann sich auf Warenverkehrsfreiheit berufen?

Auf die Grundfreiheiten berufen können sich nach dem EuGH nicht nur die Anbieter etwa von Waren oder Dienstleistungen, sondern auch die Nachfrager (EuGH Rs. 286/‌82 und 26/‌83 – Luisi und Carbone, Slg. 1989, 195, Rn. 15; EuGH Rs.

Wer ermöglicht unter anderem einen freien Warenverkehr in der EU?

Rolle des Europäischen Parlaments. Das Parlament förderte die Vollendung des Binnenmarkts und hat stets insbesondere das „neue Konzept“ für den freien Warenverkehr unterstützt. Es hat auch einen wesentlichen legislativen Beitrag zu den Harmonisierungsrichtlinien geleistet.