Was können Eltern tun wenn Ihr Kind Depression hat?

Wenn ein Kind depressiv wird, stellt das die ganze Familie vor eine grosse Herausforderung. Die Suche nach der Ursache hilft oft wenig. Wichtig ist Vertrauen – und dass das Kind die Depression nicht zu seiner Identität macht.

Anna ist das älteste von drei Kindern. Die 16-Jährige war immer selbstbewusst und stark. Seit einiger Zeit ist das Mädchen depressiv, was die gesamte Familie sehr belastet. Anna nimmt bereits Antidepressiva und geht regelmässig in die Therapie. Trotzdem hat ihre Familie Angst, dass sich der Teenager etwas antun könnte. Schliesslich hat sie ihrer Mutter gegenüber schon einmal Suizidgedanken geäussert. 

Die Mutter der 16-jährigen Anna schreibt, ihre Tochter sei plötzlich depressiv geworden. Dabei sei Anna bisher eher wie Pippi Langstrumpf gewesen: stark und unabhängig. Anna und ihre zwei Geschwister (12 und 14 Jahre) hatten immer den Raum und die Möglichkeit, ihre eigenen Entscheidungen zu treffen. 

Anna ist schön, intelligent und gut in der Schule, sagt die Mutter. Sie wusste bereits sehr früh, was sie will. Es war ein grosser Schock für die Familie, als Anna von einem Tag auf den anderen so deprimiert wurde und der Mutter erzählte, dass sie sogar ab und zu an Selbstmord denke. Sie wisse plötzlich nicht mehr, was sie tun solle, und fühle sich falsch. Die Eltern von Anna und auch ihre Geschwister finden nicht, dass Anna alles falsch mache. Sie fühlen sich deswegen verwirrt und hilflos. Die Mutter arbeitet im Gesundheitswesen und der Vater hat einen Bauernhof. Natürlich gab es auch in der Familie von Anna immer wieder Streitigkeiten, Höhen und Tiefen, aber schlimm seien ­diese nicht gewesen, sie hätten alle daraus gelernt. 

Eine Lebenskrise kann durch ein traumatisches Erlebnis ausgelöst werden – aber auch aus heiterem Himmel hereinbrechen.

Anna war bei einem Psychiater, der ihr Antidepressiva verschrieben hat, und sie geht nun einmal die Woche zu einem Psychologen. Der Vater macht jeden Tag einen langen Spaziergang mit ihr und alle Familien­mitglieder reden viel miteinander. Dieser Zustand dauert nun seit vier Monaten an und die ganze Familie ist sehr angespannt und verstört. Doch das Schlimmste, so die Mutter, sei die Angst um Anna: die Angst davor, dass sie sich tatsächlich das Leben nimmt. Deshalb hat die ganze ­Familie dauernd ein Auge auf den Teenager. Die Eltern fragen sich, was sie falsch gemacht haben.

Basierend auf der Beschreibung der Mutter gibt es mehrere Möglichkeiten. Ich glaube nicht, dass die Erklärung für Annas Verhalten in der Beziehung der Eltern zur Tochter liegt. Anscheinend haben die Eltern Anna nicht übermässig beschützt und sie hatte wohl auch nicht die Rolle der «perfekten Prinzessin» in der Familie.

Soweit ich das beurteilen kann, steckt Anna in einer sogenannten Lebenskrise. Diese ist offenbar nicht durch einen Verlust (etwa einen Todesfall oder eine lebensbedroh­liche Krankheit in der Familie) oder ein Trauma (etwa eine Scheidung oder Missbrauch) ausgelöst worden. Damit gibt es auch keine bestimmte Ursache, die es zu identifizieren gilt. Einerseits ist das natürlich eine gute Nachricht, andererseits verstärkt das die Hilflosigkeit aller involvierten Personen.

Eine Lebenskrise kann durch ein traumatisches Erlebnis ausgelöst werden, sie kann aber auch wie der Blitz aus heiterem Himmel über einen hereinbrechen. Anna hat plötzlich «sich selbst» (oder besser ihr Sein) verloren. Sie weiss nicht, wer sie ist, was sie will, was wichtig oder unwichtig ist, was sie mag oder nicht mag. Wer sich seiner selbst sicher ist, kennt seine Schwächen und Stärken, seine Sympathien und Antipathien. Anna fühlt sich jetzt plötzlich leer und nackt, ohne eine Identität.

Etwas Ähnliches passiert oft während der Pubertät. In der Regel führt das zu dramatischen Konflikten mit Eltern und Geschwistern. Anna wusste, was sie wollte. Und ihre Eltern haben sie genügend einfühlsam und flexibel begleitet, was Anna die Möglichkeit gab, ihre Wünsche und Träume ohne Machtkämpfe zu realisieren. Sie hat im Grunde immer kluge und vernünftige Entscheidungen getroffen. Sie hatte immer das Vertrauen ihrer Eltern und auch deren Unterstützung. 

Würde man Anna fragen, würde sie vermutlich bestätigen, dass sie «sich selbst verloren» hat, so wie die Eltern sie jetzt auch wahrnehmen. Bisher hatte sie das Privileg, Teil eines Dreiecks bestehend aus ihr selbst, ihren Eltern und ihrem Netzwerk zu sein. Nun meint sie, einen Eckpunkt aus diesem Dreieck verloren zu haben.

Tatsächlich hat sie sich aber nicht selbst verloren. Sie hat «nur» den Kontakt zu sich verloren und fühlt sich vorübergehend wie gelähmt. All ihre Talente, Erfahrungen, Ziele und Träume existieren noch, aber sie kann sie nicht fühlen und hat deshalb auch keinen Zugriff darauf. Das ist ein sehr ernster und dramatischer Verlust für eine junge Frau, die immer wusste, was sie wollte, konnte und fühlte.

Die Depression ist Annas Identität

Was können die Eltern und andere tun, um ihr zu helfen? Bei einem Psychologen beispielsweise ist es wichtig, dass die Chemie zwischen ihm und der Patientin stimmt und dass er in der Lage ist, Anna zu vermitteln, dass er den Schlüssel zu ihrem Wohlbefinden hat. Anna braucht einen externen Gesprächs- oder Sparringpartner, der geduldig und bereit ist, sie in ihrem Tempo zu führen. Ein Gespräch pro Woche über die Zeitdauer eines Jahres halte ich für optimal.

Anna soll ihre Gedanken über einen Selbstmord mit den Eltern teilen, bevor sie weitere Schritte plant. Das schafft viel Sicherheit auf beiden Seiten.

Wenn ihr Arzt ein modernes Antidepressivum verschrieben hat – wir nennen es im Volksmund «Happy Pill» – und dieses nach drei bis fünf Wochen nicht oder nur wenig hilft, braucht es eine medikamentöse Alternative. Oder die Eltern ziehen sogar die Möglichkeit in Betracht, gar kein Medikament verabreichen zu lassen.

Da Anna ihre Identität verloren hat, ist nun die Depression ihre ganze Identität. Es ist wichtig, dass das Gleiche nicht auch den Eltern und den Geschwistern passiert. Sie müssen immer daran denken, dass Anna viel mehr ist als ihre Depression. Obwohl das sehr schwierig ist, müssen die Eltern alles versuchen, um zu verhindern, dass die Depression ihrer Tochter zu ihrem «Projekt» wird.

Natürlich braucht Anna die Zuwendung und Fürsorge ihrer Familie, aber es sollte nicht so sein, dass die Eltern ihr eigenes Leben auf Stand-by schalten, bis ihre Tochter sagt, dass es ihr besser geht. Ich verstehe die Angst davor, dass Anna sich das Leben nehmen könnte. Mein Vorschlag ist deshalb, dass sie Anna einen «Deal» anbieten: Ihre Tochter soll ihre Gedanken über einen Selbstmord mit den Eltern oder dem Psychologen teilen, sobald sie auftauchen und bevor sie weitere Schritte plant. Ich weiss, dass das ein wenig grob erscheint, aber es schafft in der Regel viel Sicherheit auf beiden Seiten.

Ansonsten sind die Schlüssel­wörter jetzt Geduld und Integration. Vielleicht ist es nächste Woche vorbei oder es dauert noch viele Monate. In dieser Zeit müssen die Eltern lernen, ihre eigene Hilflosigkeit und Verzweiflung zurückzuhalten und ihr eigenes Leben zu leben, damit diese Gefühle nicht auch ihr Leben zum Stillstand bringen. Sie dürfen an ihre Tochter glauben, so wie sie es immer getan haben. Sie dürfen darauf vertrauen, dass Anna ihren eigenen Weg finden wird, um aus der Depression heraus- und wieder zu sich zu finden.

Wie gehe ich mit meiner depressiven Tochter um?

Zeigen Sie Geduld mit dem Betroffenen. Erinnern Sie ihn/sie stets daran, dass die Depression eine Erkrankung ist, die vorübergeht und sich gut behandeln lässt. Versuchen Sie nicht, den Betroffenen von der Grundlosigkeit seiner Schuldgefühle zu überzeugen.

Was tun wenn Jugendliche depressiv sind?

Bei Depressionen im Kindes- und Jugendalter verspricht eine Psychotherapie den größten Behandlungserfolg. Als am wirksamsten haben sich dabei die kognitive Verhaltenstherapie, die interpersonelle Therapie und die Familientherapie erwiesen. Es ist sinnvoll, immer auch die Familie in die Therapie mit einzubeziehen.

Sollte man einen depressiven Menschen in Ruhe lassen?

Seien Sie vorsichtig mit gut gemeinten Ratschlägen: Empfehlen Sie einem depressiven Menschen nicht, mal richtig abzuschalten und für ein paar Tage zu verreisen. Gerade Menschen mit schweren Depressionen erleben in einer nicht vertrauten Umgebung ihre Freudlosigkeit manchmal noch weitaus schmerzhafter.

Ist es normal in der Pubertät depressiv zu sein?

Manchmal traurig zu sein, ist ganz normal. Gerade in der Pubertät, einer Zeit großer Veränderungen und Unsicherheiten, gibt es viele Misserfolge, Rückschläge und Verluste. Stimmungsschwankungen sind in dieser Lebensphase sehr häufig.