Was passiert wenn man sich vor den zug wirft

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Von Réda El Arbi, 17. Juli 2014

Am Stadelhofen sind «Personenunfälle» besonders häufig.

«Personenunfall sorgt für Verspätungen» hiess es heute in einer Schlagzeile. «Personenunfall»ist der SBB-Euphemismus für «Selbstmord». Es waren zwei Personen, die sich unabhängig voneinander vor den Zug warfen. Früher galt mal die Regel, dass man in der Presse nicht über normale «Personenunfälle» berichtet, um keine Nachahmer zu animieren.

Nun kam die Diskussion auf, wem das Mitgefühl gehört. In meinen Augen sind Menschen, die sich vor den Zug werfen, krasse Egozentriker, die ihr eigenes Leid so sehr in den Mittelpunkt stellen, dass ihnen das Leid, dass sie in Angehörigen oder Zeugen (oder Zugführern) auslösen, egal ist. Suizid ist meistens eine egoistische Tat. Aber es gibt Unterschiede. Ob ich mir nun im Alter ein gewisses Mass an Würde erhalten möchte und mich vor Schmerzen und geistigem Verfall mit einem tödlichen Medikamentencocktail davonschleiche, oder ob ich ich mich während der Stosszeit öffentlichkeitswirksam  von einem Zug zerquetschen lasse, ist nicht dasselbe.

Natürlich sind Menschen, die sich vor einen Zug werfen, krank. Trotzdem gehört mein Mitgefühl in diesem Falle den Hinterbliebenen. Ich finde es sogar gefährlich, mit zuviel Betroffenheit und Aufmerksamkeit auf solche Ereignisse zu reagieren. Wer sich vor einen Zug wirft, sucht nicht nur den Tod. Er versucht der Gesellschaft zuzuschreien: «Das habt ihr nun davon». Es ist eine Art Amoklauf, bei dem oberflächlich gesehen nur der Täter verletzt wird. Und solche Amokläufe gieren nach Aufmerksamkeit, selbst im Tod. Darum gibts auch die Nachahmer.

Aber eben: Wenn man etwas genauer hinschaut, triffts nicht nur den Selbstmörder, es gibt da zum Beispiel noch die Familie. Und eben den Lokführer. Vielleicht ein Familienvater, der dann wochen- oder monatelang nicht mehr schlafen kann, Psychopharmaka nehmen muss und unter einem Trauma leidet. Bei den Zeugen einer solchen Tat dasselbe. Wieso haben wir also nur Hass für Amokläufer die sich selbst richten, aber viel Verständnis für Leute, die ihre Umgebung auf subtilere Weise verletzten? Krank sind beide.

Mein Mitgefühl gehört also den Angehörigen. Und den Leuten, die mit ihrer Krankheit ringen – und sich Hilfe holen. Sei es beim Arzt, beim Geistlichen oder in einer Selbsthilfegruppe.

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  • Bahn-Suizide werden meist auf offener Strecke begangen. © istockphoto

Als Notarzt lernt man, eigenständig zu entscheiden und dann konzentriert zu handeln. Jeder Handgriff muss sitzen. Aber was, wenn der Verunglückte bereits tot ist - und stattdessen die Umstehenden zum Problem werden? Eine Notärztin berichtet von einem Einsatz, bei dem sie eher als Psychologin gefragt war.

Manchmal sieht Nora Hamp* die Bilder noch vor sich, wenn sie von irgendwoher mit der Bahn ankommt und an Gleis 2 aussteigt: Den langen Güterzug am Bahnsteig, unter ihm das tote Mädchen - und rings herum eine hysterische Schulklasse, kaum zu bändigen. „Das hatte ich noch nie erlebt“, sagt Dr. Hamp. „So eine Aggression, soviel Wut. Mir ist das immer noch unerklärlich.“ Dabei ist sie damals schon eine erfahrene Notärztin: „Ich fuhr seit eineinhalb Jahren regelmäßig Einsätze, 7 bis 8 Dienste im Monat. Ich hatte also viel Routine.“

Einsatz am Bahnhof

Als an jenem Mittag ihr Piepser losgeht, sitzt sie gerade in der Kantine. Mal wieder bleibt die Mahlzeit halb aufgegessen stehen. Hamp läuft hinüber zur Garage und trifft gleichzeitig mit ihrem Fahrer am Wagen ein. Auf die Rückbank zwängt sich noch ein Kollege, der gerade seine Notarzt-Ausbildung macht und froh ist über jede Fahrt, die er in seinem Logbuch ergänzen kann. Die Leitstelle meldet: Zugunglück am Bahnhof, eine Person wurde erfasst. Nora Hamp ist klar: Da ist wohl nicht mehr zu helfen. „Wer von einem Zug überfahren wird, hat keine Chance. Fast immer kann man nur noch den Tod feststellen.“ In den allermeisten Fällen wollte sich der Betreffende umbringen. Aber das ist hier fraglich: Bahn-Suizide werden meist auf offener Strecke begangen. Dieses Mal ist es am Bahnhof passiert, mitten in der Stadt. Die Ärztin spürt, wie ihr Adrenalin-Spiegel steigt - trotz aller Routine.

16-Jährige überfahren

Die Fahrt dauert nur wenige Minuten. Bei ihrer Ankunft sind auch schon Rettungswagen und der technische Dienst der Bahn vor Ort. „Nach denen schaue ich immer als erstes“, sagt Hamp. „Bevor die Bahn die Oberleitung nicht abgeklemmt hat, gehe ich nicht auf die Gleise.“ Der Notarztwagen hält auf dem Bahnhofsvorplatz. Nora Hamp greift nach ihrem Koffer, den sie vermutlich nicht brauchen wird, und steigt aus. Man zeigt ihnen den Weg: Am Bahnhofsgebäude vorbei, dann durch die Unterführung zum nächsten Bahnsteig. Dort drängen sich Leute. Die Bahnmitarbeiter haben rot-weiße Absperrbänder gespannt, zwischen denen sie die Notärzte hindurchlotsen. Dabei berichten sie schnell das Nötigste: Ein 16-jähriges Mädchen ist auf das Gleis gerannt, der Lokführer konnte nicht mehr rechtzeitig bremsen. Am Gleis steht ein Güterzug, zwischen Zug und Bahnsteigkante schauen die Ärzte hinunter auf einen menschlichen Körper: „Sie war nicht mehr zu identifizieren“, sagt Nora Hamp. „Es war klar, dass sie tot war.“ Ungewöhnlich ist, dass der Zug noch über ihr zum Stehen gekommen ist: Da er sehr lang ist, stehen die Wagen noch im Bahnhof, während die Lok schon viel weiter gefahren ist.

Hysterische Schulklasse

Dem Mädchen können die Ärzte nicht mehr helfen, und die Bergung der Leiche ist nicht ihre Aufgabe. Unter normalen Umständen wäre ihr Einsatz jetzt vorbei, sie würden zurückfahren und sich wieder abkömmlich melden. Aber an diesem Tag geht das nicht: „Rundherum herrschte das absolute Chaos!“, erzählt Hamp. „Eine ganze Gruppe Jugendlicher stand am Bahnsteig, die alles mit angesehen hatten.“ Das Mädchen war vom Bahnsteig auf das Gleis gesprungen. Die Warnungen der anderen kamen zu spät. Und deren Reaktion überrascht die Ärzte: Sie sind nicht in Tränen aufgelöst oder stumm vor Schreck. „Statt dessen beschimpften sie uns“, so Hamp. „Sie schrieen uns an: ,Was willst du denn hier, du blöde Fotze!' und ähnliches.“ Sie versucht zu erklären: „Ich bin hier die Notärztin!“ Aber sie hat den Eindruck, das dringt gar nicht bis zu den Jugendlichen vor. „Die waren so unverschämt und keiner Hilfe zugänglich - ein Albtraum!“

*Name geändert

Lesen Sie hier den gesamten Beitrag: Tod auf den Schienen

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