Was bedeuten 2-6 bei empfehlung einer leitlinie

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  • PMC8207810

DGNeurologie. 2021; 4(4): 319–326.

Commentary of the German multiple sclerosis therapy consensus group (MSTKG) on the S2k guideline on multiple sclerosis

Leserbrief zu

Berthele A, Hemmer B (2021) S2k-Leitlinie: Diagnose und Therapie der multiplen Sklerose, Neuromyelitis-optica-Spektrum-Erkrankungen und MOG-IgG-assoziierten Erkrankungen. Zusammenfassung der Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Neurologie. DGNeurologie. 10.1007/s42451-021-00334-6

Die multiple Sklerose (MS) ist eine komplexe, autoimmun vermittelte Erkrankung des zentralen Nervensystems, charakterisiert durch entzündliche Demyelinisierung sowie axonalen/neuronalen Schaden. Die Zulassung verschiedener verlaufsmodifizierender Therapien sowie auch das in den vergangenen Jahren enorm gewachsene Krankheitsverständnis veränderten Verlauf und Prognose der Erkrankung wesentlich. Unter diesem Aspekt ist die Aktualisierung der Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN; S2k-Leitlinie) einerseits eine sehr verantwortungsvolle Aufgabe. Andererseits führte aber bereits die im August 2020 veröffentlichte Konsultationsfassung zu erheblichen Diskussionen, z. T. auch mit Vermittlung der DGN. Daher ist aus Sicht dieser Autorengruppe (Multiple Sklerose Therapie Konsensus Gruppe, MSTKG) eine Positionierung, insbesondere im Hinblick auf einige wenige, aber wesentliche Kritikpunkte, notwendig. Daher verweisen wir gleichzeitig auch auf ein MSTKG-Positionspapier mit wesentlichen Empfehlungen zur verlaufsmodifizierenden Therapie der MS als Ergebnis einer Zusammenarbeit von Mitgliedern des Kompetenznetzwerks Multiple Sklerose (KKNMS; einschließlich Vorstandsmitgliedern), Mitgliedern des Bund Deutscher Neurologen (BDN), Mitgliedern der DGN sowie Vertretern aus Österreich und der Schweiz, dessen Ziel es ist, das Wissen zur MS, zu ihrem Verlauf und insbesondere ihrer therapeutischen Beeinflussung auf dem Stand des Jahres 2021 für die Anwendung im deutschsprachigen Raum auf Basis verfügbarer wissenschaftlicher Evidenzen bestmöglich zu bündeln (OpenScienceFramework, Vorabdruck, https://osf.io/j7z8s/).

Die Leitlinie (LL) der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN) zur Diagnose und verlaufsmodifizierenden Therapie der multiplen Sklerose (MS) mit verwendeter Methodologie in AWMF-Konformität (S2k-Status) erbringt viele Empfehlungen, die unstrittig richtig und hilfreich sind. Der Kommentar fokussiert von daher ausschließlich auf die wenigen kritischen Aspekte und warum sie aus Sicht der Multiple Sklerose Therapie Konsensus Gruppe (MSTKG) einer Kommentierung bedürfen bzw. eine alternative Empfehlungssituation notwendig machen.

Aus Sicht der MSTKG sind die wesentlichen Kritikpunkte an der neuen Leitlinie (und Unterschiede zum Positionspapier der MSTKG) wie folgt:

  • Ein explizites Ziel der MS-Therapie ist die „bestmögliche Krankheitskontrolle“ unter Einbeziehung der „bestmöglichen Lebensqualität“ des Patienten, mit der Option auch hocheffektive Therapeutika als Reaktion auf Krankheitsaktivität früh bzw. frühestmöglich einzusetzen. Generell kann die Wahl der verlaufsmodifizierenden Therapie auf Basis der Einschätzung von Krankheitsaktivität, Krankheitsschwere und – damit zusammenhängenden – prognostischen Kategorien getroffen werden. Konkret fußt die Entscheidung auf der Situation des individuellen Patienten unter Einbeziehung der Situations- und Prognoseanalyse, die u. a. Krankheitsaktivität, Krankheitsschwere, die Abwägung von Therapiesicherheit und -risiko, das Alter, das Geschlecht und die Lebenssituation des Patienten einbezieht.

  • Die neue DGN-LL versucht, eine deutsche Operationalisierung von „Aktivitätsdefinitionen“, die u. E. auf problematische Weise Vorgaben macht, die nicht belegt sind, jedoch therapeutische Maßnahmen erheblich einschränken sowie bereits etablierte deutsche/europäische/internationale Konsensusempfehlungen zurücknehmen. Letztlich bedeutet dies in konkreter Auslegung, dass eine höheraktive Therapie erst gegeben werden sollte, wenn der Patient bereits eine Behinderung hat bzw. man den Patienten ≥ 2 Jahre beobachtet hat. Aus Sicht der MSTKG, sowie gestützt durch mehrere große Beobachtungs- und Registerstudien, ist es ein wesentliches Ziel der modernen MS-Therapie, die Akkumulation von Behinderung und damit mögliche Neurodegeneration nicht zuzulassen. Zudem können es Phasen der Krankheitsaktivität erfordern, rascher eine Entscheidung herbeizuführen, d. h. nicht 2 Jahre zu warten, bevor eine Therapieoptimierung eingeleitet wird.

  • Aus Empfehlungssicht der MSTKG kann die MS als mild/moderat bzw. aktiv oder hochaktiv bewertet werden (Abb. 1). Entscheidend für die Einschätzung sind

    • I.

      die Schubfrequenz,

    • II.

      der Magnetresonanztomographie(MRT)-Befund (Läsionslast, Läsionslokalisation) und

    • III.

      die Rückbildung der/s Schübe/Schubes, die Erkrankungsaktivität sowie die Erkrankungsschwere (gemessen an klinischen sowie radiologischen Parametern); zusätzlich sind das Alter des Patienten und seine Komorbiditäten in Betracht zu ziehen.

    Was bedeuten 2-6 bei empfehlung einer leitlinie

  • Die Bestimmung der Aktivität erfolgt anhand klinischer Schübe (Schweregrad der klinischen Symptomatik/Dauer/Rückbildungstendenz) und/oder MRT-Aktivität (kontrastmittelaufnehmende Läsionen; neue oder eindeutig vergrößerte T2-Läsionen). Die Bestimmung der Progression erfolgt mit Hilfe mindestens jährlicher Untersuchungen mit sorgfältiger klinischer Beurteilung. Als standardisierte Instrumente zur Beurteilung klinischer Funktionen bei Patienten mit MS sind neben dem EDSS beispielsweise der „multiple sclerosis functional composite“ (MSFC), das „brief international cognitive assessment for MS“ (BICAMS) oder 6‑ bzw. 2‑min-Gehtests etabliert. Grundsätzlich sind die Einordnungen nicht kategorisch oder statisch und bedürfen der Überprüfung bzw. engmaschiger Verlaufskontrollen.

  • Die Empfehlung zur Immuntherapie bei klinisch isoliertem Syndrom (KIS), welches aufgrund der neuen diagnostischen Kriterien zunehmend seltener diagnostiziert wird, ist bei der DGN-LL sehr zurückhaltend und nicht immer leicht nachvollziehbar formuliert. Für die Optikusneuritis als relativ häufige Erstmanifestation einer MS wird die Therapie eher als Ausnahme propagiert. Die MSTKG positioniert sich klar proaktiv zu einer Therapie, sieht das KIS mit den neuen McDonald-Kriterien immer häufiger als MS und gibt definitorische Hilfe für den Sonderfall der Optikusneuritis gemäß neuen McDonald-Kriterien (da es sich auch hier immer häufiger um eine zu therapierende McDonald-definitive MS handelt).

  • Die Auswahl der optimalen verlaufsmodifizierenden Therapie auf Basis der aktuellen Kenntnis des jeweiligen Wirkmechanismus verläuft heute bei der (hoch-)aktiven MS nach 2 hauptsächlichen Vorgehensweisen. Sie beruhen auf der Evaluation des Risikos des weiteren MS-Verlaufs und von Risiken vs. Wirksamkeit verlaufsmodifizierender Therapien.

    • Die erste Variante ist ein sog. Eskalationsansatz. Hier wird mit niedrigpotenteren Medikamenten mit einem bekannten und relativ sicheren Risikoprofil begonnen. Bei Nachweis von Erkrankungsaktivität trotz hinreichend langer und regelmäßiger Anwendung wird eine Eskalation zu potenteren Medikamenten durchgeführt.

    • Die alternative Vorgehensweise ist die Therapieinitiierung bereits mit einer Medikation höherer Wirkeffizienz, z. B. Alemtuzumab, Cladribin, Natalizumab, Ocrelizumab, Ofatumumab oder Sphingosin-1-Phosphat(S1P)-Modulatoren (zugelassen Fingolimod, Ozanimod, Ponesimod), ggf. auch schon zum Zeitpunkt der Diagnose.

  • Die DGN-LL erwähnt zwar die beiden Ansätze, präferiert aber recht eindeutig den Eskalationsansatz. Dies ist aus Sicht der heutigen Datenlage und der europäischen/internationalen Empfehlungen so nicht ausreichend und limitiert die Möglichkeiten, auch mit einer Medikation höherer Wirkeffizienz zu beginnen.

  • Die LL versucht eine Graduierung von krankheitsmodifizierenden Therapien nach Wirkstärke und nimmt damit erstmals eine Dreiteilung vor. Das ist aus Sicht der MSTKG wissenschaftlich nicht fundiert, da Unterschiede der Schubreduktion von nur wenigen Prozent zwischen den genannten Medikamenten wegen verschiedener Studienkollektive nicht formal verglichen werden dürfen. Aus diesem „unwissenschaftlichen Ansatz“ folgt problematischer Weise dann letztlich auch eine „Dreiteilung“ des Therapiealgorithmus – bestehend aus einer erst niedrig-, dann mittel- und zuletzt hochpotenten Therapie. Dieses schrittweise „Auftitrieren“, welches im Kern als Präferenzvorgehen beschrieben wird, entspricht nicht den etablierten Konsensusempfehlungen, den neuen Erkenntnissen und europäischen/internationalen Therapiekonzepten, nach denen nicht nur der Zeitpunkt der Therapie (frühestmöglich) sondern auch deren Wirkstärke das langfristige Outcome beeinflusst.

  • Die Vorgabe einer Dreiteilung mit Zuordnung bestimmter Medikamente in jeweils Gruppe 1, 2, 3 stimmt in Teilen nicht mit den Zulassungstexten dieser Medikamente überein und schränkt damit letztlich die inzwischen proaktiveren Therapiekonzepte und die Therapiefreiheit ein. Wenngleich die LL immer versucht, andere Wege zu erlauben, gibt es ohne Evidenz den Zwang einer Begründungsumkehr.

  • Die DGN-LL erwähnt zwar, dass es kontinuierliche vs. gepulste Therapieansätze gibt, legt sich aber recht eindeutig und in klarer Präferenz für den kontinuierlichen Therapieansatz fest. Unter anderem wird dies mit dem Hinweis auf fehlende Langzeitdaten gepulster Therapien begründet, der aber so nicht haltbar ist. Letztlich muss daher eine Aufklärung über beide Therapiekonzepte erfolgen, zumal man den Patienten über die Möglichkeit einer Erkrankungsstabilisierung ohne kontinuierliche Therapie (therapiefreie Remission) informieren muss.

  • Ein weiteres Problem der DGN-LL ist zudem der Versuch, für sehr konkrete Situationen sehr konkrete Handlungsanweisungen zu geben. Aus Sicht der MSTKG ist ein weiterhin abwägendes, auf die Person und die individuelle Person maßgeschneidertes Vorgehen anstelle von kategorischen, rigiden Empfehlungen notwendig und sinnvoll. Zum Beispiel gibt es eine Vorschrift zum Gebrauch von Natalizumab in spezifischen klinischen Situationen (Beispiel positiver JCV-Antikörper-Status). Die Therapie mit Natalizumab auch bei JCV-Antikörperstatus ≥ 0,9 ist jedoch prinzipiell möglich und sogar je nach individueller Voraussetzung in bestimmten Situationen unter Monitorauflagen notwendig, zumal sich das Progressive Multifokale Leukoenzephalopathie(PML)-Risiko in den ersten 18 Monaten nicht von einer JCV-Antikörper-negativen Person unterscheidet.

  • Die DGN-LL positioniert sich sehr exponiert zum Absetzen einer verlaufsmodifizierenden Therapie und empfiehlt diese Möglichkeit nach 5 Jahren dezidiert. Aus Sicht der MSTKG ist dies auf Basis der vorliegenden Daten so nicht möglich und sogar für den Patienten nicht ungefährlich. Das Absetzen oder Pausieren einer Therapie bei explizitem Patientenwunsch (ohne eine geplante Folgetherapie) kann unter klaren Maßgaben für ein klinisches wie bildgebendes Monitoring erfolgen, ist aber damit keinesfalls der Regelfall. Entsprechende Absetzstudien wurden gerade erst international initiiert. Hingegen gibt es klare epidemiologische Daten für eine jederzeit mögliche sog. Reaktivierung im Sinne eines Fortschreitens der Krankheit sowie Daten für Reaktivierung oder Rebound nach Absetzen von immunmodulatorischen Medikamenten. Zudem kann nach Absetzen von Natalizumab oder S1P-Modulatoren verstärkte Krankheitsaktivität (Rebound) auftreten. In dieser Kritiklinie balanciert die DGN-LL die Medikamentensicherheit für den Patienten aus Sicht der MSTKG höher als die modernen Möglichkeiten für langfristige Erkrankungsstabilisierung.

  • In der DGN-LL wird das für die MS nicht zugelassene Rituximab den anderen Präparaten zur B‑Zell-Therapie (Ocrelizumab, Ofatumumab) gleichgestellt, obwohl Evidenzklasse-I-Studienergebnisse hierzu nicht existieren. Zwar ist eine ähnliche Wirksamkeit möglich, ist aber „off-label“ und führt damit zu Problemen bei der Verordnung.

  • Die MSTKG verbleibt im Gegensatz zur DGN-LL bei den mit Zulassungstexten und im Konsensus von KKNMS und DMSG verabschiedeten Empfehlungen der KKNMS Qualitätshandbücher.

Supplementary Information

Mitglieder der Multiple Sklerose Therapie Konsensus Gruppe (MSTKG)

Heinz Wiendl; Ralf Gold; Thomas Berger; Tobias Derfuss; Ralf Linker; Mathias Mäurer; Martin Stangel; Orhan Aktas; Karl Baum; Martin Berghoff; Stefan Bittner; Andrew Chan; Adam Czaplinski; Florian Deisenhammer; Franziska Di Pauli; Renaud Du Pasquier; Christian Enzinger; Elisabeth Fertl; Achim Gass; Klaus Gehring; Claudio Gobbi; Norbert Goebels; Michael Guger; Aiden Haghikia; Hans-Peter Hartung; Fedor Heidenreich; Olaf Hoffmann; Boris Kallmann; Christoph Kleinschnitz; Luisa Klotz; Verena Leussink; Fritz Leutmezer; Volker Limmroth; Jan D. Lünemann; Andreas Lutterotti; Sven G. Meuth; Uta Meyding-Lamadé; Michael Platten; Peter Rieckmann; Stephan Schmidt; Hayrettin Tumani; Frank Weber; Martin S. Weber; Uwe K. Zettl; Tjalf Ziemssen; Frauke Zipp

Anhang

Exzerpt der Therapieempfehlungen des MSTKG-Positionspapiers

Dieses Positionspapier baut in wesentlichen inhaltlichen Kernaussagen auf der Leitlinie der ECTRIMS/EAN aus dem Jahr 2018 [1] bzw. deren anstehender aktualisierter Fassung auf und präzisiert bzw. aktualisiert diese für die Versorgungssituation im deutschsprachigen Raum. Weiterhin erfolgte eine Auseinandersetzung mit der amerikanischen Leitlinie aus 2018 [2].

Die Evidenzstärken wurden nach Beurteilung der zugrunde liegenden (Studien‑)Datenlage bewertet (Grad 1–5, analog zum System des „Oxford Centre for Evidence-based Medicine“). Die Empfehlungsstärken werden auf Basis ihrer Datengrundlage folgendermaßen gradiert (analog zum AWMF-Regelwerk):

  1. Grad A: soll (starke Empfehlung)

  2. Grad B: sollte (Empfehlung)

  3. Grad C: kann (schwache Empfehlung)

  4. Grad D: ist möglich (good clinical practice point)

Im Kontext der Empfehlungen basieren alle Therapieentscheidungen immer auf einem Patienten-Arzt-Konsens (Stichwort „shared decision making“).

Aufgrund der Platzbeschränkungen ist in diesem Kommentar nur ein Extrakt mit den Kernempfehlungen des eigentlichen Positionspapiers verschriftlicht – die zugrunde liegenden Evidenzen und Literatur sind nicht abgebildet. Das Positionspapier in seiner vollen Länge ist als Vorabdruck online abrufbar [3, 4].

Wir verweisen zu Wirkungen und Nebenwirkungen sowie zu den notwendigen Untersuchungen vor Einleitung der Therapie, Laborkontrollen und Therapieumstellungen auf Details in den Qualitätshandbüchern des KKNMS (entsprechend der jeweiligen Zulassungsvorgaben; [5]) und ihren jeweiligen Aktualisierungen.

Für einen verbesserten Lesefluss wird im gesamten Text auf Genderformulierungen verzichtet; es sind immer alle Geschlechter gemeint, außer bei expliziter Formulierung.

Kernfragen und Empfehlungen zur therapeutischen Intervention
  1. Welchen Nutzen hat eine DMT bei Patienten mit KIS, unabhängig davon, ob sie die Kriterien einer definitiven MS erfüllen, im Vergleich zu keiner Behandlung?

    Empfehlung 1:

    • Grundsätzlich soll einem KIS-Patienten (unabhängig davon, ob die Kriterien der örtlichen und zeitlichen Dissemination erfüllt sind), unter Ausschluss anderer differenzialdiagnostischer Ursachen, eine Immuntherapie angeboten werden.

    • Die Auswahl der Immuntherapie sollte sich an den prädiktiven Parametern orientieren, wobei aktuell in erster Linie (i) der MRT-Befund (Anzahl sowie Lokalisation von Läsionen) aber auch (ii) Ausmaß der Rückbildung des Schubes, (iii) die multifokale Präsentation und (iv) liquorspezifische oligoklonale Banden bzw. chronisch-entzündliche Liquorveränderungen zu nennen sind.

    • Insbesondere bei KIS-Patienten mit hoher Läsionslast und/oder infratentoriellen Läsionen in der diagnostischen MRT sollte angesichts der mutmaßlich ungünstigen Prognose aktiv eine Immuntherapie empfohlen werden. Hierbei ist je nach individuellen Gegebenheiten auch eine hochwirksame Therapie bereits initial in Betracht zu ziehen.

    • Die Behandlung des KIS sollte nicht unnötig verzögert werden und sollte sich im individuellen (hochaktiven) Fall auch nicht an eine stufenweise Eskalation anlehnen (bitte beachte etwaige „off-label“ Nutzung).

  2. Welchen Nutzen hat eine DMT bei Patienten mit schubförmiger MS (RMS) im Vergleich zu keiner Behandlung/Behandlung mit einem anderen verlaufsmodifizierenden Medikament?

    Empfehlung 2:

    • Für die Einleitung einer DMT bei der schubförmigen MS spricht das Behandlungsziel der Reduktion entzündlicher Aktivität in Form von Erkrankungsschüben und neuen Läsionen in der MRT. Übergeordneter Fokus gilt dabei dem Erhalt der sog. zerebralen Reserve. Zudem gibt es Hinweise aus verschiedenen Studien (Registerstudien, „open label extension studies“), dass diese Therapien einen positiven Einfluss auf das längerfristige Behinderungsrisiko und die sekundäre Progression haben könnten.

    • Grundsätzlich soll Patienten mit diagnostizierter MS eine Immuntherapie angeboten werden, sofern die Therapiebegleitung durch (i) adäquate Infrastruktur, (ii) adäquates Krankheitsassessment, (iii) kontinuierliche Überwachung der Erkrankung, aber auch der Therapie, und (iv) Kenntnis, Erkennen sowie Behandlung von Therapienebenwirkungen gegeben ist. Angeboten werden kann das gesamte Spektrum zugelassener Therapien für die schubförmige MS. Für die MS steht ein breites Spektrum an DMT zur Verfügung (Alemtuzumab, Cladribin, Dimethylfumarat, Fingolimod, Glatiramerazetat/Glatirameroide, Interferon-beta-1a, Interferon-beta-1b, pegyliertes Interferon-beta-1a, Natalizumab, Ocrelizumab, Ofatumumab, Ozanimod, Ponesimod, Teriflunomid; Reservemedikamente: Azathioprin, Mitoxantron).

    • Die Auswahl der optimalen verlaufsmodifizierenden Therapie auf Basis der aktuellen Kenntnis des jeweiligen Wirkmechanismus verläuft heute nach 2 hauptsächlichen Behandlungsvorgehensweisen. Sie beruhen auf der Evaluation des Risikos des weiteren MS-Verlaufs und von Risiken vs. Wirksamkeit verlaufsmodifizierender Therapien.

      • Die erste Variante ist ein sog. Eskalationsansatz. Hier wird mit niedrigpotenteren Medikamenten mit bekanntem und relativ sicherem Risikoprofil begonnen und bei Nachweis weiterer Erkrankungsaktivität (klinisch oder durch eine MRT) eine Eskalation zu potenteren Medikationen durchgeführt.

      • Die alternative Vorgehensweise ist die Initiierung mit einer Medikation höherer Wirkeffizienz, z. B. Alemtuzumab, Cladribin, Natalizumab, Ocrelizumab, Ofatumumab oder S1P-Modulatoren (Fingolimod, Ozanimod, Ponesimod), ggf. schon zum Zeitpunkt der Diagnosestellung.

    • Die Auswahl der Immuntherapie soll sich an den Parametern der MS orientieren (Prognose, Erkrankungsaktivität sowie Erkrankungsschwere), wobei aktuell in erster Linie (i) die Schubfrequenz, (ii) der MRT-Befund (Läsionslast, Läsionslokalisation) und (iii) die Rückbildung der/s Schübe/Schubes, die Erkrankungsaktivität sowie die Erkrankungsschwere (gemessen an klinischen sowie radiologischen Parametern) zur Beurteilung herangezogen werden; zusätzlich sind das Alter des Patienten, das Geschlecht, das Vorhandensein von liquorspezifischen oligoklonalen Banden bzw. chronisch-entzündlichen Liquorveränderungen, seine Komorbiditäten sowie insbesondere das Sicherheitsprofil der DMT in Betracht zu ziehen.

    • Als Vorschlag zur Einschätzung einer (hoch-)aktiven schubförmigen MS sollte gelten: ≥ 1 Schub innerhalb der letzten 12 Monate, ≥ 2 Schübe in den letzten 24 Monaten oder ≥ 3 neue T2-Läsionen oder ≥ 1 neue Gd+-Läsion in einer Verlaufs-MRT (auf die Kontrastmittelgabe kann bei Vorliegen rezenter und qualitativ hochwertiger Verlaufsbilder verzichtet werden) in den letzten 12 Monaten.

  3. Welchen Nutzen hat eine DMT bei Patienten mit progredienter MS (primär progredienter MS [PPMS] bzw. sekundär progredienter MS [SPMS]) im Vergleich zu keiner Behandlung?

    Empfehlung 3:

    • Patienten mit progredienter MS profitieren insbesondere in frühen Stadien der Erkrankung von einer DMT und sollen behandelt werden, wenn klinische und/oder bildgebende Aktivität vorliegen. Aber auch in späteren Krankheitsphasen oder nach längerer Krankheitsdauer sollte im individuellen Fall eine Therapie in Erwägung gezogen werden, wenn wichtige Funktionen verloren zu gehen drohen. In der Nutzen-Risiko-Bewertung ist das Alter der Patienten mit einzubeziehen.

    • Vor Beginn einer Therapie sollen die Therapieziele besprochen und entsprechend kontinuierlich überprüft werden. Im Falle eines unveränderten Fortschreitens der Erkrankung im Vergleich zur Situation vor Therapieinitiierung muss von einem nicht ausreichenden Ansprechen auf die Therapie ausgegangen werden. Allerdings ist es wichtig, neben den Endpunkten der MRT-Aktivität, der Schubrate und der Gesamtbehinderung auch auf Veränderungen innerhalb von relevanten Funktionssystemen des EDSS zu achten (z. B. Funktion der oberen Extremitäten) sowie auf eine Verbesserung der Lebensqualität, wie sie vom Patienten empfunden wird (QoL) und eine Verringerung des Risikos einer kognitiven Beeinträchtigung.

    • Nachdem bei den progredienten Formen Veränderungen häufig nur langsam vonstattengehen, aber auch Fluktuationen zum Erkrankungsbild gehören, sollten positive wie negative Veränderungen bestätigt werden (idealerweise nach 3 oder 6 Monaten).

    • Die Entscheidung hinsichtlich einer Wirksamkeit einer Therapie bei progredienten Verläufen sollte idealerweise innerhalb von 2 Jahren möglich sein. Bei fehlender Wirksamkeit einer DMT sollte das Absetzen der Therapie mit dem Patienten besprochen werden.

  4. Welchen Nutzen hat eine frühe Behandlung mit einer DMT vs. keine Therapie bei MS-Patienten?

    Empfehlung 4:

    • Eine DMT bei MS soll so früh wie möglich nach Diagnosestellung begonnen werden, damit eine weitere/zukünftige Behinderung vermieden wird. In Einzelfällen kann bei Patienten mit sehr geringer Läsionslast und kompletter Rückbildung einer milden klinischen Symptomatik auch ein abwartendes Vorgehen mit regelmäßigen neurologischen und bildgebenden Kontrollen in Erwägung gezogen werden.

    • Die Überlegenheit einer sofortigen Therapie nach erstmaligem Ereignis (KIS) vs. einer frühzeitigen Behandlung (< 3–6 Monate nach dem erstmaligen Ereignis) scheint allenfalls gering.

  5. Welchen Vorteil hat bei MS-Patienten der frühe Beginn von hochwirksamen DMT im Vergleich zum späten Beginn?

    Empfehlung 5:

    • Für den Langzeitverlauf zeigt sich ein Vorteil des Einsatzes hochwirksamer vs. moderat wirksamer DMT von Beginn an. Hierfür sprechen Registerdaten, wenn auch prospektive Studien fehlen. Aufgrund möglicherweise erhöhter Risiken für z. T. schwere Nebenwirkungen und in Wichtung individueller Lebensfaktoren sollte der Einsatz von hochwirksamen DMT zu Beginn der Erkrankung individuell und in Abstimmung mit dem Patientenwunsch entschieden werden.

    • Innerhalb der hochwirksamen DMT gibt es das Konzept einer (i) dauerhaften Therapie (Wirksamkeit relativ direkt mit Applikation und mit einer Reversibilität nach Absetzen einhergehend: Natalizumab und S1P-Rezeptor-Modulatoren [sowie Ocrelizumab und Ofatumumab mit Einschränkung aufgrund des Wirkmechanismus]) vs. einer (ii) gepulsten Therapie (Wirksamkeit aufgrund Immundepletion und Repopulation deutlich über die Halbwertszeit des Medikaments hinausgehend, ggf. auch dauerhafte therapiefreie Erkrankungsstabilität: Alemtuzumab und Cladribin [sowie möglicherweise Ocrelizumab, mit starker Einschränkung aufgrund des Wirkmechanismus]).

  6. Welche Arten von Untersuchungen/Parametern sagen bei MS-Patienten unter einer DMT ein schlechtes Ansprechen auf die Behandlung voraus?

    Empfehlung 6:

    • Ziel der MS-Therapie ist die „bestmögliche“ Krankheitskontrolle und die bestmögliche Lebensqualität des Patienten. Praktisch soll die Krankheitskontrolle gemessen werden anhand klinischer Parameter (v. a. Schübe, Behinderung) sowie MRT-Aktivität (sog. NEDA-Konzept, „no evidence of disease activity“). Für die Messung der Lebensqualität stehen verschiedene Messparameter (patientenbasiert, arztbasiert) zur Verfügung.

    • Die Überprüfung des Therapieerfolges sollte bei DMT-behandelten Patienten durch klinische Beurteilung alle 3 Monate und durch Vergleich einer standardisierten zerebralen MRT innerhalb von 3–6 Monaten nach Behandlungsbeginn (gewertet als sog. Re-Baseline-MRT/Vergleichs-MRT) sowie mit einer MRT 12 Monate nach Behandlungsbeginn und danach in jährlichen Abständen erfolgen. Ein Nichtansprechen auf eine Therapie kann im Regelfall frühestens nach 6–9 Monaten eingeschätzt werden (s. Besonderheiten gepulster Therapien).

    • Bei behinderungsrelevanten Schüben, rascher Behinderungsprogression oder schweren Nebenwirkungen (Sicherheit, Verträglichkeit) soll die Umstellung der DMT erwogen werden.

    • Der Wechsel von einer DMT für einen mild/moderaten Verlauf zu einer DMT für einen (hoch-)aktiven Verlauf sollte bei ≥ 1 relevantem Schub oder ≥ 2–3 neuen oder relevant vergrößerten, durch Experten bestätigten MRT-Läsionen oder bei einer Zunahme der Behinderung ≥ 0,5–1 EDSS-Punkte (bestätigt nach 3–6 Monaten) innerhalb von 1 Jahr (sog. vertikaler Switch) vorgenommen werden.

    • Ein Wechsel der DMT innerhalb der DMT-Gruppen kann bei Nebenwirkungen (Tolerabilität, Sicherheit) oder einer sehr geringfügigen Krankheitsaktivität (sog. horizontaler Switch) erfolgen.

  7. Bei MS-Patienten unter DMT und mit Parametern, die auf ein schlechtes Ansprechen auf die Behandlung hinweisen: Was ist der Nutzen eines Wechsels zu höher wirksamen DMT (vertikaler Wechsel) im Vergleich zu DMT mit ähnlicher Wirksamkeit (horizontaler Wechsel)?

    Empfehlung 7:

    • Bei MS-Patienten unter DMT für milde/moderate Formen und mit klinischen und/oder radiologischen Anzeichen, die auf ein schlechtes Ansprechen der aktuellen Behandlung hinweisen (s. Empfehlungen 6), sollte ohne Verzögerung auf eine höher wirksame DMT gewechselt werden.

    • Die Wahl der höher wirksamen DMT ist in Absprache mit dem Patienten anhand folgender Faktoren zu treffen:

      1. Individuelle Patientencharakteristika (insbesondere MS-Charakteristika, aber auch Alter, Geschlecht), inklusive Aspekte der Familienplanung sowie Patientenwunsch

      2. Bestehende Komorbiditäten

      3. Nebenwirkungs- und Risikoprofil der DMT, inklusive notwendiger Maßnahmen zum Therapiemonitoring

      4. Indikation und Kostenerstattung des Medikaments

  8. Ist bei Patienten mit schubförmiger MS, die die Behandlung mit einer hochwirksamen DMT abbrechen, das Risiko für eine Rückkehr oder einen Rebound ihrer Krankheitsaktivität erhöht?

    Empfehlung 8:

    • Das Absetzen bzw. Aussetzen einer Medikation für die Therapie der (hoch-)aktiven MS, entweder auf Basis von suboptimaler Wirksamkeit oder Sicherheitsbedenken, soll von einem klaren Konzept einer Folgetherapie begleitet sein.

    • Bei der Auswahl der Nachfolgemedikation sollten folgende Faktoren berücksichtigt werden:

      1. Erkrankungsaktivität (klinisch sowie magnetresonanztomographisch): je höher die Krankheitsaktivität, desto höher die Notwendigkeit für den unmittelbaren Start einer neuen Therapie

      2. Erkrankungsschwere

      3. Halbwertszeit sowie biologische Aktivität der vorhergehenden Medikation (Unterscheidung zwischen sog. Erhaltungstherapien [Natalizumab, S1P-Modulatoren, z. T. Ocrelizumab] sowie gepulsten Therapien [Alemtuzumab, Cladribin, z. T. Ocrelizumab]). Entsprechende Empfehlungen finden sich in den Qualitätshandbüchern des KKNMS.

      4. Darüber hinaus (s. Empfehlungen zu Frage 10) ist das Risiko einer „carry-over“ PML bestmöglich zu reduzieren. Dabei sind klinische, magnetresonanztomographische, aber auch liquordiagnostische Parameter (Nachweis von HPyV-2[JCV]-DNA mittels PCR) heranzuziehen, um den Status Baseline oder Status vor Umsetzung zu bestimmen.

    • Die Gefahr eines Wiederauftretens der Erkrankungsaktivität oder sogar eines Rebounds (insb. nach Leukozytenmigrationstherapien wie Natalizumab oder S1P-Rezeptor-Modulatoren) soll berücksichtigt werden. Das Wiederauftreten der Erkrankungsaktivität ist bei diesen Substanzen 2–6 Monate nach Absetzen zu erwarten.

  9. Ist bei Patienten mit schubförmiger MS, die unter DMT über einen langen Zeitraum stabil bleiben, eine Weiterbehandlung vorteilhaft im Vergleich zum Absetzen des Medikaments?

    Empfehlung 9:

    • Bei MS-Patienten, die unter einer bestimmten DMT und mit klinischem und/oder radiologischem Monitoring stabil sind und bei denen keine Sicherheitsprobleme oder Verträglichkeitsprobleme bestehen, soll die Therapie weitergeführt werden.

    • Das Absetzen oder Pausieren einer Therapie ist – abhängig von dem Wirkmechanismus – mit der Gefahr des Wiederauftretens von Erkrankungsaktivität und/oder -progression assoziiert (s. auch Empfehlungen zu Frage 8).

    • Das Absetzen oder Pausieren einer Therapie bei explizitem Patientenwunsch (ohne eine geplante Folgetherapie) kann unter klaren Maßgaben für ein klinisches wie bildgebendes Monitoring erfolgen.

  10. Bei Patienten, bei denen ein Wechsel der DMT geplant ist: Wie sollte die empfohlene Strategie aussehen?

    Empfehlung 10:

    • Der Wechsel von Dimethylfumarat, Glatiramerazetat/Glatirameroiden und Interferonpräparaten auf eine andere DMT sollte ohne ein Auswaschintervall vollzogen werden. Auch hier ist allerdings – insbesondere bei Dimethylfumarat – eine Kontrolle des Differenzialblutbildes zu empfehlen und bei Lymphopenie ggf. bis zu einer Erholung des Blutbildes vor Umstellung zu warten.

    • Bei Substanzen, die regelhaft zu einer Lymphopenie führen, wie Alemtuzumab, Cladribin oder S1P-Rezeptor-Modulatoren, sollte bis zu einer weitgehenden Rückbildung der Lymphopenie gewartet werden, wenn der klinische Zustand des Patienten eine Therapiepause erlaubt (Nutzen-Risiko-Analyse). Für konkrete Empfehlungen wird auf die Handbücher des KKNMS verwiesen.

    • Bei Umstellung von Natalizumab auf eine andere hochwirksame Therapie soll das Risiko einer „carry-over“ PML in Betracht gezogen werden. Daher soll vor Umstellung eine sorgfältige neuroradiologische Diagnostik erfolgen. Bei Bedarf sollte eine Analyse des Liquors auf HPyV-2(JCV)-DNA vorgenommen werden.

    • Die potenziellen Wirkzeiten der DMT sollten bei Umstellung in Betracht gezogen werden, insbesondere wenn Laborwerte oder sonstige organisatorische Erfordernisse eine Therapiepause bedingen. Die Wiederkehr von Krankheitsaktivität kann für MS-Patienten schwerwiegende Folgen haben und ist bei Natalizumab bereits nach der 6. Woche und bei S1P-Rezeptor-Modulatoren innerhalb der ersten 3 Monate nach Beendigung der Therapie möglich.

  11. Welcher langfristige therapeutische Ansatz ist optimal zur Weiterbehandlung für Patienten, die zuletzt mit Alemtuzumab oder Cladribin behandelt wurden?

    Empfehlung 11:

    • Sollte es nach den komplett durchgeführten Therapiezyklen mit Alemtuzumab zu erneuter Krankheitsaktivität im Verlauf kommen, sollte ein 3. Therapiezyklus erwogen werden, wenn es nach den ersten Zyklen zu einer deutlichen Reduktion der Krankheitsaktivität gekommen ist (Jahr 2) und damit von Therapieansprechen bzw. Krankheitskontrolle auszugehen ist.

    • Sollte es nach den komplett durchgeführten Therapiezyklen mit Cladribin zu erneuter Krankheitsaktivität im Verlauf kommen, kann ein 3. Therapiezyklus analog zu Alemtuzumab erwogen werden (für Cladribin im 3. und 4. Jahr derzeit „off-label“), allerdings ist hierfür keine ausreichende Datenlage verfügbar.

    • Ein Wechsel von Alemtuzumab zu Cladribin oder umgekehrt sollte aufgrund der wenig absehbaren, sequenziell kombinierten Wirkung auf das Immunsystem gut begründet sein. Alle anderen zugelassenen DMT können prinzipiell unter engmaschiger Kontrolle bei Auftreten von Krankheitsaktivität verabreicht werden.

    • Ist unter der Therapie mit Alemtuzumab oder Cladribin im ersten Therapiejahr Krankheitsaktivität zu verzeichnen, so sollte dies einerseits im Kontext der Vortherapie bzw. der Erkrankungsvorgeschichte (vorbestehende Aktivität/Schwere) interpretiert werden, andererseits sollte – sofern die Erkrankung nicht gleichbleibend aktiv oder sogar paradox aktiver geworden ist – der Effekt dieses Therapieprinzips mit Gabe des kompletten weiteren Therapiezyklus abgewartet werden, um das Therapieprinzip zu wahren. Ist die Krankheitsaktivität im Vergleich zum Status vor Therapieinitiierung nach dem 1. Therapiezyklus allerdings klar verstärkt, sollte die Umstellung auf eine andere (hoch-)aktive DMT vorgenommen werden.

  12. Wie sollte die therapeutische Strategie bei Patienten mit MS, die mit DMT behandelt werden, aussehen, um das Risiko einer progressiven multifokalen Leukenzephalopathie (PML) zu minimieren?

    Empfehlung 12:

    • Natalizumab ist (i) bei positivem HPyV-2(JCV)-AK-Status (≥ 0,9) und (ii) einer Behandlungsdauer von ≥ 18 Monaten mit einem hohen Risiko für die Entwicklung einer PML verbunden. Unabhängig vom HPyV-2(JCV)-AK-Status ist (iii) eine vorhergehende Immunsuppression ein Risikofaktor, der zusammen mit der Behandlungsdauer berücksichtigt werden soll.

    • Bei stabilem Verlauf sollen Patienten mit niedrigem Risiko (HPyV-2[JCV]-AK negativ, HPyV-2[JCV]-AK-Titer ≤ 0,9) zur Überwachung der Behandlungssicherheit regelmäßige klinische Untersuchungen erhalten und mindestens 1‑mal jährlich paraklinisch (MRT) untersucht werden. Auch sollen HPyV-2(JCV)-Antikörper-Titer-Kontrollen alle 6 Monate erfolgen.

    • Bei Patienten mit einem hohen PML-Risiko (HPyV-2[JCV]-AK-Titer ≥ 0,9 und Dauer der Behandlung mit Natalizumab > 18 Monate, vorhergehende Immunsuppression) sollen im Fall einer Fortsetzung der Therapie häufigere MRT-Kontrollen (alle 3–6 Monate) vorgenommen werden. Parallel dazu sollen zudem höherfrequente klinische Kontrollen (≤ alle 3 Monate) erfolgen. Hier ist die Durchführung von MRT-Kurzprotokollen mit speziellen PML-Sequenzen möglich.

    • Für Patienten mit einem hohen PML-Risiko, die das Medikament wechseln, oder bei Patienten mit einem Potenzial für erhöhte Krankheitsaktivität nach Absetzen der Therapie – wie beim Wechsel von Natalizumab auf Fingolimod – sollen insbesondere zum Zeitpunkt des Absetzens der aktuellen Behandlung und nach Beginn der neuen Behandlung eine zerebrale MRT und ggf. eine Liquoruntersuchung erfolgen (HPyV-2[JCV]-PCR), um eine „carry-over“ PML sicher auszuschließen und die Situation zu Therapieende bzw. nach Therapieinitiierung zu erheben.

    • Zur Vermeidung von immunologischen Nebenwirkungen – inklusive opportunistischer Infektionen wie PML – soll insbesondere im ersten Jahr unter Dimethylfumarat eine Überwachung der Leukozyten und speziell der absoluten Lymphozyten erfolgen. Sollte die Zahl persistent unter 500/µl liegen, muss das Präparat abgesetzt werden. Bei anhaltenden Werten zwischen 500 und 800/µl – auch über das erste Jahr hinaus – sind verstärkte Vigilanzmaßnahmen anzuwenden (höherfrequentes klinisches und magnetresonanztomographisches Monitoring). Das Risiko steigt offenbar mit dem Alter der Patienten (≥ 55 Jahre).

    • Für das PML-Risiko unter Fingolimod (und vermutlich den anderen S1P-Modulatoren) gibt es außer einem höheren Patientenalter (≥ 55 Jahre) keine Risikostratifizierungsparameter.

  13. Für MS-Patientinnen unter einer DMT: Wie ist die Therapie bei Kinderwunsch oder einer ungeplanten Schwangerschaft zu verändern und wie sollte die Behandlung nach der Entbindung während der Stillzeit aussehen?

    Empfehlung 13:

    • Patientinnen sollen darüber informiert werden, dass mit Ausnahme von Interferonen und Glatiramerazetat/Glatirameroiden die DMT während der Schwangerschaft keine Zulassung haben.

    • Gleiches gilt für die Stillzeit, wo bisher nur für Interferone eine Zulassung besteht.

    • Für Frauen mit hoher Krankheitsaktivität sollte die Kontrolle der Erkrankungsaktivität prioritären Stellenwert besitzen, sodass man in diesen Fällen zunächst eine Verschiebung einer geplanten Schwangerschaft anrät.

    • Für geplante oder ungeplante Schwangerschaften bei hoher Krankheitsaktivität kann Natalizumab bis zur 32. Woche gegeben werden, unter klarer Besprechung der Nutzen-Risiko-Abwägungen.

    • Die Gabe von Dimethylfumarat kann bis zum positiven Schwangerschaftstest erwogen werden.

    • Die Behandlung mit immundepletierenden DMT (Alemtuzumab, Cladribin) kann bei bestehendem Kinderwunsch eine alternative therapeutische Option sein, sofern das Intervall von letzter Gabe bis zur Konzeption ≥ 4 (Alemtuzumab) bzw. ≥ 6 Monate (Cladribin, für beide Geschlechter) ist.

    • Aus der Kenntnislage der klinischen Routine ist es möglich ≥ 4 Monate nach einer Behandlung mit Ocrelizumab eine Konzeption zu planen („good clinical practice point“; s. auch Qualitätshandbücher des KKNMS).

    • Für Frauen mit hohem Risiko für eine Erkrankungsaktivierung sollen Interferone oder Glatiramerazetat/Glatirameroide als Therapie bis zum Eintritt oder auch während der Schwangerschaft in Erwägung gezogen werden.

    • Grundsätzlich sollte eine Immuntherapie nach Entbindung, unter Berücksichtigung der Vorgaben und Einschränkungen in der Stillzeit, wieder aufgenommen werden.

  14. Wie sollte die Behandlungsstrategie im aktuellen epidemiologischen Kontext von COVID-19 aussehen?

    Empfehlung 14:

    • Auf der Basis der bisher verfügbaren Daten stellen Komorbiditäten und kritische Residuen der MS mit schwerer Behinderung ein erhöhtes Risiko für einen schweren Verlauf von COVID-19 dar, nicht aber die MS-Erkrankung selbst oder eine der DMT. Zu CD20-Antikörpern existieren allerdings Daten, die das Risiko eines möglicherweise schwereren Verlaufs zeigen. Es gibt demnach keinen Grund, jüngeren und ansonsten gesunden MS-Patienten eine Therapie aufgrund der Pandemie vorzuenthalten bzw. eine Therapie zu verschieben. Die Auswahl eines Medikamentes sollte sich weiterhin ausschließlich nach der Aktivität und Schwere der MS richten.

    • Bei MS-Patienten mit höherem Lebensalter, höherem Behinderungsgrad und internistischen, insbesondere kardiovaskulären Vorerkrankungen sollte allerdings zu Zeiten der Pandemie intensiver die Erkrankungsaktivität in Trajektorie zum Alter reflektiert werden, insbesondere bei der Indikation einer progredienten MS, und ob eine MS-Therapie/B-Zell-depletierende Immuntherapie wirklich indiziert ist. Kortikosteroidtherapie kann das Risiko für schwerere Verläufe erhöhen, was bei Patienten mit regelmäßig durchgeführten Kortikosteroidpulsen zu bedenken ist.

    • Grundsätzlich sollen MS-Patienten geimpft werden – dies schließt die Impfung gegen SARS-CoV‑2 mit ein und gilt für alle gegenwärtig verfügbaren (konzeptuellen Tot‑)Impfstoffe (mRNA, Adenovirusvektor). Auch unter einer DMT sollte die Impfung durchgeführt werden; es besteht auch bei einer laufenden DMT eine berechtigte Aussicht darauf, dass eine suffiziente Impfantwort erreicht wird. Daher wird auch bei den meisten DMT kein besonderes Timing hinsichtlich der Impfung benötigt. Bei Ocrelizumab existieren Daten zur Impfung 3 Monate nach Gabe der Therapie, daher kann dieses Zeitfenster, wenn möglich, beachtet werden. Wenn dies nicht möglich ist, kann im Sinne der Nutzen-Risiko-Abwägung wann immer möglich gegen SARS-CoV‑2 geimpft werden (s. Merkblatt Impfen KKNMS Stand 04.03.2021). Ansonsten soll den Empfehlungen der jeweiligen nationalen Impfkommission Folge geleistet werden. Zur Überprüfung der Impfantwort durch Messung von Antikörpern sind zurzeit keine ausreichenden Daten vorhanden und dieses wird auch von den Herstellern nicht empfohlen.

Interessenkonflikt

Vollständige Interessenkonflikterklärung aller Autoren und Autorinnen siehe: elektronisches Zusatzmaterial.

Footnotes

Die Mitglieder der Multiple Sklerose Therapie Konsensus Gruppe (MSTKG) werden am Beitragsende gelistet.

Heinz Wiendl und Ralf Gold haben die geteilte Erstautorenschaft und in gleichen Teilen zum Manuskript beigetragen.

Contributor Information

Heinz Wiendl, Email: ed.retsneum-inu@ldneiw.

Ralf Gold, Email: .

Frauke Zipp, Email: ed.zniam-inu@ppiz.

Multiple Sklerose Therapie Konsensus Gruppe (MSTKG):

Heinz Wiendl, Ralf Gold, Thomas Berger, Tobias Derfuss, Ralf Linker, Mathias Mäurer, Martin Stangel, Orhan Aktas, Karl Baum, Martin Berghoff, Stefan Bittner, Andrew Chan, Adam Czaplinski, Florian Deisenhammer, Franziska Di Pauli, Renaud Du Pasquier, Christian Enzinger, Elisabeth Fertl, Achim Gass, Klaus Gehring, Claudio Gobbi, Norbert Goebels, Michael Guger, Aiden Haghikia, Hans-Peter Hartung, Fedor Heidenreich, Olaf Hoffmann, Boris Kallmann, Christoph Kleinschnitz, Luisa Klotz, Verena Leussink, Fritz Leutmezer, Volker Limmroth, Jan D. Lünemann, Andreas Lutterotti, Sven G. Meuth, Uta Meyding-Lamadé, Michael Platten, Peter Rieckmann, Stephan Schmidt, Hayrettin Tumani, Frank Weber, Martin S. Weber, Uwe K. Zettl, Tjalf Ziemssen, and Frauke Zipp

Literatur

1. Montalban X, Gold R, Thompson AJ, Otero-Romero S, Amato MP, Chandraratna D, et al. ECTRIMS/EAN guideline on the pharmacological treatment of people with multiple sclerosis. Multiple Scler J. 2018;24(2):96–120. doi: 10.1177/1352458517751049. [PubMed] [CrossRef] [Google Scholar]

2. Rae-Grant A, Day GS, Marrie RA, Rabinstein A, Cree BA, Gronseth GS, et al. Practice guideline recommendations summary: disease-modifying therapies for adults with multiple sclerosis: Report of the Guideline Development, Dissemination, and Implementation Subcommittee of the American Academy of Neurology. Neurology. 2018;90(17):777–788. doi: 10.1212/WNL.0000000000005347. [PubMed] [CrossRef] [Google Scholar]

3. ONLINE PREPRINT VOLLVERSION des MSTKG: Positionspapier zur verlaufsmodifizierenden Therapie der Multiplen Sklerose 2021 (White Paper). https://osf.io/j7z8s/

4. Wiendl H, Gold R, Berger T, Derfuss T, Linker R, Mäurer M et al (2021) MSTKG: Positionspapier zur verlaufsmodifizierenden Therapie der Multiplen Sklerose 2021 (White Paper). Nervenarzt im Druck

Welche Klassifikationen von Leitlinien gibt es?

3 Klassifikation.
S1-Leitlinie: Empfehlungen auf der Basis eines informellen Konsens..
S2-Leitlinie. S2k-Leitlinie: Empfehlungen auf der Basis eines strukturierten Konsens. ... .
S3-Leitlinie: Empfehlungen auf der Basis von Evidenz und strukturiertem Konsens..

Was bedeutet S 3 Leitlinie?

Eine systematische Evidenz-Recherche hat stattgefunden. S3- Leitlinie: Die Leitlinie hat alle Elemente einer systematischen Entwicklung durchlaufen (Logik-, Entscheidungs- und Outcome-Analyse, Bewertung der klinischen Relevanz wissenschaftlicher Studien und regelmäßige Überprüfung).

Soll Empfehlung Leitlinie?

Grad A, „Soll“-Empfehlung: zumindest eine randomisierte kontrollierte Studie von insgesamt guter Qualität und Konsistenz, die sich direkt auf die jeweilige Empfehlung bezieht und nicht extrapoliert wurde (Evidenzstufen Ia und Ib)

Was steht in einer Leitlinie?

Leitlinien (guidelines) sind systematisch entwickelte Aussagen zur Unterstützung der Entscheidungsfindung von Ärzten, anderen im Gesundheitssystem tätigen Personen und Patienten. Das Ziel ist eine angemessene gesundheitsbezogene Versorgung in spezifischen klinischen Situationen.